Sonntag, 29. Januar 2017

Marlis


21.12.2007 – 04.02.2016

 August 2010

Nun ist es schon ein Jahr her.
In Gedenken veröffentliche ich Marlis Bericht heute in meinem neugegründeten Blog.

Es ist ein regnerischer, kalter Tag in Wiesbaden.
Mein Kollege und ich sind unterwegs, Besorgungen machen. Gerade stehen wir auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt, etwas Öl für das Auto besorgen.
Der Welpe, nun den zweiten Tag bei mir, bleibt derweil alleine im Auto.
Alles ist fremd für ihn, wir, Auto fahren, alleine bleiben.
Als wir zurück kommen, ist aber nicht das erwartete Jammern zu hören. Nein, er ist auf den Sitz geklettert und schläft dort.
Beeindruckend.
Während mein Kollege Öl nachfüllt, sitze ich im Wagen. Da klingelt mein Handy.
Meine Taunuskollegin: „Hay.“ sage ich vergnügt.
„Was machst Du?“
Fröhlich berichte ich, was gerade so geht.
Am anderen Ende ist schweigen.
Etwas irritiert hake ich nach.
„Marlis ist tot.“
Die Worte klingen an mir vorbei, als hätten sie keine Bedeutung.
Mein Hirn sagt, sie hat nicht gefragt: Was machst du?
Sie hat gesagt: Marlis ist tot.
Meine Güte habe ich mich verhört.

Marlis ist tot.

Es bedeutet mir gar nichts, berührt mich nicht.

Dann fällt mir auf, dass aus dem Handy gefragt wird, ob ich noch da bin.
„Ja, ja, was? Wie?“

Marlis hatte wieder eine Lungenentzündung.
Das wusste ich schon, sie hatte so schlecht Luft bekommen, dass sie in der Tierklinik waren. Tropf, Antibiotikawechsel und sie durfte mit Heim.
Nun war es plötzlich wieder schlimmer geworden, schnell zur Tierklinik.
Sie kam nicht mehr lebend an.

Da sitze ich im Auto, das Handy in der Hand und weiß nichts mehr.
Ich spüre...
Was spüre ich?
Nichts.
Oder doch? Oder...
Soll ich jetzt.
Muss ich irgendetwas sagen?
Mein Mund stammelt unsinnige Geräusche.
Glaube ich.
„Ich. Ich kann jetzt nichts sagen. Ich. Ich weiß nicht. Lass uns. Ich. Wir telefonieren später.“ Meine Stimme bricht und ich merke wie da Schluchzen ist, mein Schluchzen.
Ich lege auf und registriere, dass mein Kollege zugestiegen ist.
Was denkt der jetzt?
Hoffentlich nicht, dass irgendwas entsetzliches passiert ist. Es ist ja nur ein Hund.
Nur ein Hund.
Nur Marlis.
„Marlis ist tot.“
Ich kann ihn nicht angucken.
Spüre Verständnis.
„Kannst Du für mich fahren?“
„Natürlich.“
Wir tauschen Plätze.
Ich verstecke mein Gesicht unter dem Hut, spüre den Schmerz in Wellen, er rollt über mich, wie die Tränen.
Marlis ist tot.
Einfach so.

Tot.

Dieser Hund, der nie meiner war.

Etwas was Marlis völlig anders gesehen hat.

Der Schmerz liegt auf mir, wie ein Fels.

Zusammen mit Schuld.
Ich fühle mich so schuldig.
Daran, dass ich ihr nie das gegeben habe, was sie wollte.
Marlis Wunsch, für einen der eine Hund zu sein.
Ihr größter Wunsch, er hatte sich nun erfüllen sollen.
Zwei Woche war sie für jemanden DER Hund.
Und dann.
Tot.

Es will nicht in mein Hirn.
Sie kann nicht tot sein.
Nicht Marlis.

 
Geboren ist sie Dezember 2007.
Mit einem Jahr zog sie in meinen Ursprungsbetrieb.
Zu dem Zeitpunkt war ich dort nur sporadisch zu Besuch, trotzdem fiel sie mir gleich ins Auge. Natürlich, stammte sie doch aus der Zucht meines ersten Hundes, hatte das gleiche kurze Fell, die gleiche hellbraun dunkelbraun Tigerung. Ansonsten war sie auch sehr anders, kleine Schlappohren, gedrungen und sehr schüchtern.
Sie brauchte lange um den Umzug in das neue Lebensumfeld zu verdauen und auch der Start an den Schafen war nicht einfach. Für so einen Hund braucht es Samthandschuhe und viel Geduld.
Doch selbst das reicht nicht.
Man muss auch die passenden Hunde mitnehmen, wenn die eigentlich arbeitenden Hüter zu viel Druck benötigen, kann sich so ein Herzchen nie frei entfalten.
Mit viel Geschick kam dann auch Marlis ans Hüten.
Sie wurde eine fleißige Läuferin, die unermüdlich die Mannseite ging, ohne zu nerven und doch mit Druck.

Mannseite ist die Seite der Herde auf der der Schäfer steht

Die Außenseite hingegen verabscheute sie und auch am Weg lief sie nur die ersten Meter.
Da sie leichtführig war, keinen Schaden machte und doch ein Seelchen ging sie sehr früh mit den Auszubildenden mit.
Etwas was einem jungen Hund nicht unbedingt gut tut, zu viel Freiheit, zu viele Möglichkeiten für eigene Ideen.
In 2010 kam sie dann mit mir zum Hüten. Sie war zweieinhalb und ich frisch aus der Kleinkinderpause. Wir schlossen uns schnell sehr eng zusammen.
Wir harmonierten einfach.

Truppenübungspaltz, September 2013

Marlis ruhige Art an meiner Seite zu arbeiten, ohne die Hektik und das Gejiffel manch anderer lag mir sehr. Auch ihre Wesen sich an einen zu binden berührte mich, verband uns.

Tetenhusener Moor, Außenseite ist die, dem Schäfer gegenüberliegende, Seite der Herde

Ja, sie war nicht die Druckstärkste, sie packte lieber die Lämmer und guckte auch etwas zu doll nach ihnen. Die Außenseite musste man immer erzwingen und am Weg lief sie einfach nicht durch.
Aber welcher Hund ist schon perfekt?
Sie hatte einen Blick für die Einzelnen, fand Steckenbleiber in Dornen oder Gräben, bei „Do Grad“ packte sie auf den Punkt und auch wenn sie faul wirkte, war ihr Fleiß auf der Mannseite unermüdlich.

Jardelunder Moor, August 2010

Ich liebte sie und wollte sie haben.
Diese Bitte bekam grünes Licht.
Für irgendwann.
Wenn sie im Betrieb nicht mehr gebraucht wurde.

Oktober 2014

Die Jahre vergingen.
Ich arbeitete in einem anderen Betrieb, Marlis wurde älter und eigener.
Die freie Hütegestaltung mit Lehrlingen brachte sie auf ganz eigene Vorstellungen, wie Kaninchen jagen, oder wenn man ein Schaf fing, beherzt von hinten anzupacken. Auch legte sie sich ein dickes Fell zu, sie von ihren Ideen abzubringen brauchte Druck und Wut. Eine ihrer großen Leidenschaften war Fressen, schon Stunden vor Fütterungszeit begann ihr Erinnerungskonzert, nur dafür, dass sie ihr Mahl in zwei Sekunden verschlungen hatte, um dann die anderen neidvoll zu beäugen.

Im Herbst 2013 trafen wir wieder aufeinander. Und immer noch hütete ich sehr gerne mit ihr. Auch, wenn sie mich nun oft ärgerte, gerade ihre Sturheit. Doch war sie die entspannte Ergänzung zu meiner gerade erst beginnenden Ylva. Immer die Ruhe, beim Einfahren sauber stehen, beim Stellen selbständig die Herde zusammen haltend. Da konnte ich Klauen schneiden, wusste ich doch Marlis hatte die Herde im Griff.

Oktober 2013, Marlis und Oma Melle

 So manches Mal verschätze ich mich auch, hatte nur Marlis und Ylva mit, und das nützte dann die Herde aus. Kein Hund der hinten ankommt, keiner der sich traut, die Ziegen in die Mangel zu nehmen. Tja, dann musste am nächsten Tag eben wieder eine der Granaten mit. 

September 2013

Nun ergab sich die Möglichkeit, dass ich Marlis als meinen Hund übernehmen könnte.
Für einen Probelauf durfte sie mit mir nach Hause.
Sechs Jahre alt und das erste Mal Zug fahren, das erste Mal im Haus. Ist sie überhaupt stubenrein?
Das alles meisterte sie mit Bravur.
Auch, dass die Katzen nicht gefressen werden dürfen, sah sie recht schnell ein. Die Katzen hingegen waren ziemlich beleidigt, rächten sich mit Kacken in die Betten.
Die Woche verging und Marlis war so glücklich.
Das war es was sie wollte, im Haus leben, mein Hund sein.
Damit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein, das Haus und ich waren ihr Reich. Ihr Futterplatz, die Küche, durfte von den Katzen nicht mehr betreten werden. Es nervte Marlis schon, wenn sie an der Küchentür vorbei liefen. Und dann musste ich diesen Blick von ihr auch sehen, wenn die Kinder die Küche betraten.
Ach, Marlis.
Wieder auf der Arbeit, gab es übel Streit mit den anderen Hündinnen. Zuerst dachten wir, es lag an der Woche Abwesenheit, dass die Hunde das Marlis nachtrugen.
Aber nein.
Es war Marlis.
Sie fand, sie gehöre zu Anna und alle anderen gehörten nun unter sie.
Schweren Herzens entschied ich mich dagegen.
Es war zu spät, Marlis würde nie mein Hund werden.

Als im Herbst 2014 nicht genug Arbeit für Marlis im Betrieb war, wurde ein neues Umfeld für sie gesucht. Sie zog in eine Schäferei in Hessen.
Weg war sie, zurück blieb ich mit Ylva und den Betiebsgranaten.

Taunus 2015, an der Straße hält Marlis die weiße Linie

Nie hätte ich gedacht, dass das Schicksal uns nochmal wieder zusammen führt.
Aber doch, im Sommer 2015 fing ich in genau dem Betrieb im Taunus an zu arbeiten.
Marlis und ich hüteten wieder zusammen.


Was für eine Freude.
Ja, auch manchmal Ärgernis.
Aber lassen wir den älteren Hündinnen ihre Eigenheiten.
In dem Taunusbetrieb werden sehr läufige Hunde gemocht. So war Marlis doch wieder fehl am Platz, besonders auch durch ihre, mit der Weile, rücksichtslose Sturheit.
Nur hier geht kein Hund, nur weil er nicht passt, nicht, wenn man nicht was wirklich gutes für ihn gefunden hat.
Auch war Marlis mit ihrem neuen Leben nicht unzufrieden. Hüten war schon lange nicht mehr das wichtigste für sie. Im Hof, oben auf der Treppe vor der Haustür liegen, das Weltgeschehen im Blick, das genoss Marlis.

Marlis und Bud im Hof

Und ab und an kam ich ja auch und wir gingen hüten.
Der Sommer verging, es wurde September, meine Taunuszeit neigte sich dem Ende. In den letzten Hütetagen ärgerte Marlis mich so sehr, dass mir der Abschied von ihr fast leicht fiel.
Ja, die Ziege hatte es verdient, war sie doch schon den ganzen Tag auf verbotenen Abwegen. Aber das ist keine Entschuldigung sich nicht abrufen zu lassen!
Ich gebe zu, ich war so angepisst, dass ich sie die finalen drei Tage im Hof ließ.

Ich zog weiter und auch für Marlis gab es ein neues Abenteuer.
Ein befreundeter Auszubildender hatte Zwischenprüfung in Triesdorf. Und keinen Hund dafür.
So wechselte Marlis für zwei Wochen den Betrieb.
Mit der ihr eigenen Begeisterung schloss sie sich dem Azubi an und bemühte sich redlich ihm alles recht zu machen.
Marlis auf dem Lehrlingshüten in Triesdorf!
Selbst ihr Züchter war unter den Zuschauern.
Und für ihre Verhältnisse machte sie es sehr gut.
Waren wir alle Stolz auf sie!

Ende November bekam ich den Anruf, Marlis ist tragend und die Welpen können jeden Tag kommen.
Wie? Was? Wann?
Rechne, rechne.
Es muss in den zwei Septemberwochen passiert sein, als ich da war.
Ja, die anderen Hündinnen waren alle heiß.
Aber Marlis doch nicht.
Ganz ehrlich, ich würde Stein und Bein drauf Schwören, dass mir so was nicht entgehen kann.
Tja, Marlis bewies das Gegenteil.
Und der Vater?
Da die Rüden alle so im leidenden Herzschmerz steckten, waren sie an den Stall verbannt worden.
Es gab ja ruhebedürftige Nachbarn.
Bis auf einen.
Bud.
Ylvas Bruder.

Marlis, meine Ylva und Bruder Bud, ein heißer Augusttag 2015

Super.
Was für eine Kombi.
Beide Hunde Seelchen.
Bud dazu am Weg laut, überfleißiger Läufer und Keulengriff.
Definitiv keine Welpen für mich.
Zum Glück bin ich ja absolut Welpenresistent.

Und dann die Ängste um Marlis.
Fast acht Jahre, bis dato jungfräulich.
Ja, da kann man sich Sorgen machen.

Am 25. November bekam sie den ersten Welpen auf natürlichem Weg.
Die restlichen vier mussten per Kaiserschnitt geholt werden.
Das ganze strengte Marlis so an, dass sie eine Lungenentzündung bekam, die sich aber gut behandeln ließ.

November 2015, doch noch Mama

Als die Welpen zweieinhalb Wochen waren, war ich zu Besuch.
Marlis war total happy mich zu sehen, folgte mir auf Schritt und Tritt durch die Wohnung, erzählte mir von ihren Mutterfreuden.
Und ich erfuhr, dass sich jemand gefunden hatte, der Marlis als Liebhabhund wollte.
Einfach nur sie.
Ohne Schafe, im Haus, mit zu den Pferden. Endlich ein Herzensmensch für diesen Hund.

Anfang Januar war ich dann einen Tag zum Arbeiten im Taunus.
Die Welpen waren nun sechs Wochen, ein buntes Gewusel im Stall.
Einer unterschied sich deutlich von seinen Geschwistern. Während diese tobten und rauften, besah er sich in ruhe die Welt. Optisch war er das Ebenbild seiner Mutter.

Lillebror, 3 Wochen

Doch dies ist nicht seine Geschichte.
Marlis heftete sich bei meiner Ankunft sofort an meine Fersen, stand im Stall vor den Hurden und wartete darauf, dass ich mit Füttern fertig war. Sie überzeugte mich davon, dass sie unbedingt mit zum Hüten musste.
Überredet.
Dann, bei der Herde, war sie beim ersten Schicken ganz schön am Schnaufen.
Also Marlis, wir lassen das. Ich schicke Ylva und Du machst, was Du denkst.
Sie pendelte sich in ihrem typischen, schwankenden, gemütlichen Trab auf der Mannseite ein, kein pusten mehr.
In den Momenten, wo keine Arbeit war kuschelte sie mit mir.
Wir hatten einen unglaublich harmonischen Hütetag.
Wir waren so aufeinander abgestimmt, dass mir schon wieder Zweifel kamen.
Gehörte sie vielleicht doch zu mir?
Was wollte ich mit einem nervigen Welpen?
Hier war das Original. 

Januar 2016

Aber die Würfel waren gefallen.
Marlis hatte jemand, der kaum erwarten konnte, dass die Welpen weg waren.
So sollte es sein.
Dachte ich.

Vier Wochen später hatte Marlis wieder Lungenentzündung.

Tod.

Hilft es das Gesicht im Fell ihres Sohnes zu vergraben?


Keine Antworten.

Ich habe für all das keine Antworten.

Danewerk, April 2014


Ein Jahr.
Ein Jahr lebt sie nun schon nicht mehr.
Lese ich dies, kommen mir wieder die Tränen.
Doch nun gehört sie zu meiner Lebensgeschichte.
Marlis ist mir immer wieder präsent, in Bildern, ich habe so viele Bilder von ihr.
In ihrem Sohn. So manches mal kann ich seine Mutter in ihm sehen.
Und in Personen. Sie hat bei vielen einen Pfotenabdruck hinterlassen.
Nicht nur in meinem Herzen.






2 Kommentare:

  1. Das ist der erste Eintrag dieses Blogs, den ich nicht bis zum Ende lesen konnte, denn ich habe Rotz und Wasser geheult. Ich habe selten etwas gelesen, das so nüchtern und gleichzeitig so voller Gefühl geschrieben ist. Es gibt eben Tiere, die bleiben immer bei einem, auch wenn sie schon lange nicht mehr da sind.

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    1. Danke Nicola.
      "Es gibt eben Tiere, die bleiben bei einem, auch wenn sie schon lange nicht mehr da sind"
      Sehr, sehr schön gesagt und so wahr!

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