Mittwoch, 26. September 2018

Hüten im Schwabenländle im August 2018


Und ein zweites Mal geht es zur Urlaubsvertretung 700 Kilometer in den Süden. Baden-Württemberg, an der Grenze zu Bayern.
Über die Unterschiede von Nord nach Süd hatte ich mich schon letztes Jahr ausgelassen.
Beim Lesen meines Berichtes von damals, berührt mich besonders der Schluss, stimmt mich traurig. Ich möchte nicht wieder so enden und doch ist es wichtig.
Also beginne ich dieses Mal mit dem gleichen Ende:


Urlaubsvertretung in der Schäferei ist Arbeit, die mich zufrieden macht, mich erfüllt, die mich gut beschäftigt.
Und doch bin ich mir meines Luxus sehr bewusst.
Der Betrieb ist bestens organisiert und auf mich vorbereitet.
Ich habe den ganzen Tag zu tun und habe doch so viele Dinge nicht getan.
Keine Zäune, außer dem Nachtpferch gebaut, kein Wasser gefahren, keine Parasiten behandelt, kein Winterfutter gemacht, kein Weidetagebuch oder Bestandsregister geführt, keine Anträge geschrieben, überhaupt nichts an Papierkram, keinen Stall gemistet, keine Schur organisiert, keine Lämmer geschlachtet und vermarktet.
Zum Glück stand auch kein Kontrolleur auf dem Hof, der erwart, dass ich alles liegen und stehen lasse und nun mit ihm Flächen abfahre, vermesse, Tiere begutachte, Schlachträume inspiziere, Bücher durchgehe. Gefühlt gibt es pro Betrieb einen Kontrolleur, der, gut bezahlt nach Stunden, nichts anderes macht, als Fehler zu suchen und zu ahnden.
Auch habe ich keine Herdenschutzhunde versorgt, keinen Wolfsschutz gebaut, keine Nachtwache gehalten.
Erst recht habe ich nicht das Haus geputzt, Reparaturen vorgenommen, Amts- und Arzttermine wahrgenommen oder Freunde getroffen.


Auch dieser Betrieb hat, wie alle in denen ich aushelfe, trotz stattlicher Kinder, keine Nachfolger.
Unter diesen Bedingungen, bei denen es sich dazu abzeichnet, dass es nur noch schlechter wird, will keiner mehr schäfern.
Die Hüte-Wanderschäferei stirbt.
Eine jahrhundertealte Kultur stirbt.
Eine Lebensweise stirbt.
Und nimmt vieles mit:
Das Schaf, letzte Nutztierart, die noch in Freiheit lebt.
Hütehunde, deren Art Herden in kleinteiliger Kulturlandschaft zu hüten, weltweit einmalig hier entstanden ist.
Mager- und Trockenrasen.
Heideflächen.
Moore.
Kulturlandschaft, die Mensch und Tier und Nutzung in Einklang mit Natur bringt.
Es sind nicht nur Schäfer und Schafe die verlieren, es ist die Gesellschaft.


Ja, Urlaubsvertretung.
Das heißt, ich habe den Betrieb, die Schafe, für mich ganz alleine.
Die Hunde der Schäferei erinnern sich noch an mich, gehen gerne mit mir auf die morgendliche Fahrradtour.
Nur der alte Max, der meinem Lille so ähnlich sah, ist nicht mehr dabei.
Schade.
Im Stall stehen um die zwanzig Muttern mit kleinen Lämmern, die über Tag auf die Wiese kommen.
Die Herde steht ein paar Kilometer vom Hof entfernt, malerisch an einer Seenlandschaft.
Der große Vorteil, ich muss kein Wasser fahren. Dazu weiden die Schafe die schmalen Uferstreifen, eine unglaublich schöne Kulisse zum Hüten.


Als ich aus dem endlich angenehmen Schleswig-Holstein ankomme, sind hier 30°C. Mich haut die Hitze fast um, doch zwei Tage später fällt es auf höchstens 17°C.
Das schafft mich.
Die Schafe auch.
Nach Monaten Hitze und Trockenheit plötzlich Regen und kalt, die Schafe verzichten aufs fressen. Nasses Grass, iih, pfui Teufel.


Zumindest kann ich mir erzählen, dass es daran liegt, nicht daran, dass sie sich an mich gewöhnen müssen.
Doch, sicher, wir müssen uns auch zusammen raufen.
In manchen Dingen bin ich ein gnadenloser Hüter.
Ich liebe fressende runde Schafe.
Die verwöhne ich, stopfe sie mit Leckereien voll.
Wer den ganzen Tag rumzuchtelt, da und dahin drückt, den Kopf in die Luft reckt, nicht frisst, den belohne ich am Abend garantiert nicht mit frischem Futter. Erstrecht nicht, wenn es den ganzen Tag ja schon frisch war, immerhin ist die Herde gerade erst in dem Gebiet angekommen.
Und mir ist auch egal, dass sie vorher saftigere Wiesen gehabt hatten.
Das ist es, was es gibt! Fresst es! Oder lasst es bleiben!

nur übers Futter latschen


Dann bleibt ihr stehen!

Geht doch!


Morgen habt ihr dann schon Hunger!
Vier Tage reiben wir uns so, die Schafe und ich.
Nein, kein bisschen frustrierend.
Der fünfte Tag beginnt mit kalten 7°C, ich muss mir mehr Klamotten zusammen suchen.
Aber es ist klar und sonnig, herrlich!
Und direkt nach dem Ausfahren aus dem Nachtpferch, merke ich schon die veränderte Stimmung.
Die Schafe fressen, fressen, fressen.


Ich starte jeden Morgen mit dem gleichen Futter der Tage zuvor. Mit leerem Magen kann man auf dem Alten auch noch mal fressen.
Ja, ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist einfach wichtig.
Es macht die Bäuche voll, die Fläche wird sauber ausgefressen und, jetzt, wo auch hier so viel vertrocknet ist, die Bauern den letzten Halm noch mähen wollen, gibt es nichts zu verschwenden.
Und heute fressen sie und fressen.
Egal wo ich sie „hin halte“, sie haben die Köpfe unten, sind am rupfen.


Überhaupt, wenn jemand das noch nie gehört hat: Geht, hört es euch an!
Es gibt KEIN schöneres Geräusch als das!
Eine zufrieden Gras rupfende Schafherde.


Der Klang hat etwas von leichter Brandung am Morgen, oder Wind, der in Blättern spielt. Unglaublich beruhigend und entspannend.
Wenn dann noch Regen oder Gewitter in der Luft liegen, die Schwalben tief über den Schafen fliegen um Insekten zu fangen, da bleibt die Zeit stehen. Verwachsen wir in dem Moment.


Ein Landwirt kommt vorbei, schaut einen Moment zu und sagt, dass er da hinten, neben dem Nachtpferch, noch eine Stilllegung mit Klee hat. Ob ich die haben wolle? Er würde sie sonst nur unterpflügen.
Natürlich nehme ich die gerne!! Vielen Dank!
Was für ein Geschenk!
Als die Herde abends eigentlich satt ist, gehen wir auf den Klee.
Die Schafe sind total begeistert.
Doch ich bin auf habacht.
Klee ist unglaublich lecker, aber gleichzeitig sehr, sehr gefährlich.
Er bläht. Ratz, fatz und dir platzen die Schafe weg.
Nicht umsonst heißt eine alte Schäferweisheit:
Ein Schaf sucht jeden Tag seinen Tod.
Darum ist der Beruf des Hirten auch einer der ältesten der Welt.
Das Schaf braucht seinen Hirten, der es behütet.
Ich gebe der Herde zehn Minuten.
Und ich lasse sie nicht über das ganze Stück laufen, sie bekommen eine Fläche von ca. 30 auf 30 Meter. Da mögen sie noch so sehr weiter wollen.
Mehr Klee, mehr Klee!


Die Stiele könnt ihr auch fressen!
Und so stehe ich, schaue auf die nun wirklich schlingende Herde.
Nach sechs Minuten heben die ersten zwei die Köpfe, kotzen.
Vielleicht hier kurz für Nichtschäfer:
Ein Schaf, das kotzt, hat nichts mit dem, uns bekannten Erbrechen bei Übelkeit zu tun.
Wenn ich abends die Herde total satt habe, sie immer noch am Fressen sind, gibt es einige, die einfach nicht aufhören können. Ist so ein Schaf dann so richtig voll, reckt es den Kopf in den Himmel, bäumt sich auf und kotzt Gras hoch. Das Wiederkäuen wird erzwungen, mehr geht nicht.
So erfreut den Schäfer abends kotzende Schafe.
Ich beschließe, dass das reicht.
Sicher ist sicher.
Zeit für den Nachtpferch.
Herrlicher, befriedigender Tag!


Die Böcke sind im Ritt.
Das heißt, sie sind in der Herde zum Decken der brünstigen Mutterschafe.
Einer dieser stolzen Merinolandschafböcke hatte sich so heftig geboxt, dass ein Teil seiner Kopfhaut lose gerissen war. Nicht dramatisch, aber doch muss so eine Wunde kontrolliert werden.
Kleine, eigentlich harmlose Verletzungen sind ein gefundener Eiablageplatz für Fliegen. Und die Maden fressen das Tier bei lebendigem Leib. Dass gleiche kann bei verschissenen Schwänzen passieren. So ist eine meiner Aufgaben, einen sehr genauen Blick auf alle Tiere zu haben. Schafe zeigen Schmerzen und Unbehagen nicht wie wir oder auch Hunde. Im Gegenteil, sie zeigen sie eigentlich gar nicht. Ein Madenbefall ist dazu von außen, unter der Wolle versteckt, nicht zu erkennen. Ich kann ihn nur daran sehen, dass das Tier unruhiger ist, den Kopf etwas schräger hält, immer wieder in sich hinein horcht, mit den Ohren schlackelt.
Den Bock kontrolliere ich täglich. Das ist nach ein paar Tagen immer wieder eine Herausforderung, da er gar keinen „Bock“ darauf hat, und behandle die Wunde mit Blauspray. Am besten fange ich ihn morgens, beim Äpfel fressen. Da ist er so gierig, dass er mich vergisst.
Ja, Äpfel bekommt die Herde morgens. Alle Nachbarn bringen ihr Fallobst an den Stall und ich nehme es dann mit raus, verteile, mache die Schafe glücklich. Wehe, es gibt einen Tag mal keine, dann ist das Geschrei groß.


Merinoschafe sind asaisonal. Das heißt, sie können das ganze Jahr über lammen.
So auch jetzt.
Ab und an erwartet mich morgens eine Mutter mit frischgeborenen Lamm. Die lade ich ein, bringe sie Heim.
Im allgemeinen etwas, was schnell und einfach zu machen ist. Lamm an den Vorderbeinen genommen und die frischgebackene Mama läuft brav hinten drein.


Doch manchmal gibt es auch andere. So wie die Eine, die wie irre, in unerreichbarem Abstand, um mich und ihr Lamm zirkelt, total aufgeregt, aber auf keine Fall näher kommt.
Als ich das Lamm ins Auto stelle und hoffe, dass sie dazu einsteigt, will sie auch das nicht, rennt um die offene Tür.
Ach, Mama, du siehst gar nicht aus, wie eine junge unerfahren Erstlammende.
Aber hilft ja nichts, bist du nicht willens, so...
Die Herde mit dem Hund eng gestellt, das Schaf mit dem Schippenhaken am Hinterbein gefangen und in Richtung Auto gezogen.
Doch kaum haben wir die Herde verlassen, lässt sie sich fallen. Ein schlaffes Schaf ist ungleich schwerer, als ein angespanntes. Ich keuche und stöhne, während ich sie zum Auto zerre. Ein Blick auf ihre Zähne verrät mir, dass sie schon drei Mal gezahnt hat.
Drei Jahre alt, eigentlich zu alt für so ein Theater!
Aber so fett und schwer wie sie ist, kann es natürlich auch durchaus ihr erstes Lamm sein.
Endlich habe ich sie am Auto, die Vorderbeine rein gehoben, doch am Rest scheitere ich.
Sie ist einfach zu schwer.
Das Lämmchen ist ähnlich agil und schon längst wieder aus dem Auto gepurzelt. So hat das Schaf auch keinerlei Motivation einzusteigen.
Was nun?
Ich könnte sie am Auto anbinden, das Lamm holen.
Den Hund ran gerufen: „Ylva, ich brauche dein Halsband.“ Leine habe ich am Gürtel.
Meine Altdeutsche Hütehündin kommt brav, ich greife ihr Halsband. Sie kriegt Panik in der Enge am Auto, zwischen mir und fest geklemmtem Schaf, zappelt.
Das Schaf bekommt einen Schreck, macht einen Satz nach vorne.
Ins Auto!
Ich lasse den Hund los, greife die Tür.
Die Huddel dreht, will natürlich sofort wieder raus, spring mit allem was sie hat gegen mich.
Ich brülle wie ein Stier. Nicht aus Wut, auch nicht, um das Tier abzuschrecken. Nein, einfach, um die Kraft zu halten.
Sie hingegen stemmt die Hinterbeine in den Boden, legt ihr ganzes Gewicht gegen mich.
Kurzes Schwanken und dann schaffe ich, nicht rückwärts umzufallen, drücke zurück, bekomme die Tür geschlossen.
Das Auto wackelt von dem tobenden Schaf.
Schnell das Lamm geholt, zu seiner Mutter geschoben. Zufrieden grunzende Ruhe kehrt ein.
Schäferei, immer was los.


Die Tage sind zu einem Ganzen verschmolzen.
Ich bin eingetaucht in mein Tun, in diese Herde, in das Hüten, genieße es.
Die Schafe bringen mir ihren Respekt, ihre Zuneigung entgegen.
Wir nehmen alles Futter mit, das wir kriegen können. Dazu gehören auch die Wegränder.
Langsam wandere ich vorne her, die Hunde haben Pause und Schafe fressen an den Rändern. Nun sind sie auch so weit, dass ich, wenn die Wiese hinter einer Einfahrt lockt, nicht den Hund schicken muss. Ich rufe nur: „Ey, ihr Lumpen, nicht weiter!“ Und sie drehen bei, folgen mir.







Einmal, die Herde ist gerade richtig lang ausgestreckt, kommt von vorne ein großer Maislaster. Ich signalisiere, dass ich hier nun eh auf die Wiese abbiege und er bleibt stehen.
Damit es schneller geht, schicke ich den Hund, den Schafen etwas Beine machen.
Eines der großen Lämmer hüpft in den Nachtpferch, der auf der anderen Seite des Weges steht.
Warum auch immer.
Erstmal die Schafe auf die Wiese bringen.
Nun springt das Lamm aber nicht mehr raus. Nein, es hechtet sich in den Zaun, reißt das Elektronetz auf ganzer Länge aus dem Boden.
Ich lasse Schippe, Rucksack und Hut fallen, renne zurück.
Der Zaun reißt, das Lamm springt, auf kürzestem Weg, hinter der Herde her. Ins Gebüsch. Den Zaun über den Weg ziehend.
Lamm gefangen, aus dem Netz gepult und den Zaun vom Weg geräumt.
Dann mich bei dem Landwirt für sein Hilfsangebot und seine Geduld bedankt.
Was macht die Herde?
Nein, sie ist noch nicht über die ganze Wiese geschleift. Danke auch an Lillebror, meinen rumpeligen Altdeutschen Hütehundrüden, der in solchen Situationen nicht etwa scheiße baut. Nein, er geht und hält die Herde, hütet alleine, gestaltet ein erstaunlich gutes Hütebild.
Zum Glück habe ich Zaunflickzeug im Rucksack und im Auto sind Ersatzpfähle für die zerbrochenen.


Um uns fällt der Mais.
Abends geht es, vor dem Klee, noch eine halbe Stunde auf abgeerntete Maisäcker.
Lecker Kolben nagen!


Eine halbe Stunde, weil zu viel Durchfall macht.
So schaffen wir aus den geplanten fünf bis sieben, zehn Tage heraus zu holen.
Doch dann ist wirklich alles runter gefressen.
Weiter geht es.

Zu dem See, an dem ich letztes Jahr schon gehütet habe.
Den Mittagspferch dort habe ich die Tage zuvor gebaut und auch ein Fahrrad hin gebracht.
Es sind vier Kilometer durchs Feld.
Die Schafe laufen, freuen sich darüber, dass es zu neuen Ufern geht.
Ich mache extra langsam, am Wegrand fressen lassen, alles mitnehmen.
Überhaupt wäre das meins.
Wegrandschäfer.
Mit einem kleinen Herdchen Wegränder beweiden.
So wie früher.
Früher konnte eine Schäferei damit überleben.
Heutzutage total utopisch.
So kommen wir am Mittagspferch an. Genügend frisches Futter, dass ich mich auf das Fahrrad schwingen kann, zurück radele und Auto und Nachtpferch nachhole.


Und damit ist meine Zeit schon wieder zu Ende.
Mir bleibt noch ein schöner Tag im neuen Grün, mit den liebenswerten, sofort wieder zappeligen Merinos.
Hach, alles frisch! Soll ich da einen Happen nehmen? Oder da drüben? Da hinten war ich noch gar nicht! He, wo frisst die denn? Das ist sicher noch besser!
Drückt nur ihr Lumpen! Dann halte ich eisern! Dafür habe ich meine Hunde!
Hüten heißt halten!
Macht es gut!
Bis nächstes Jahr!
Ich freue mich auf euch!