Freitag, 27. April 2018

Zombies in der Lammzeit



Februar.
Und da ist er, der Winter.
Eisiger Frost, bitterkalter Wind, Sonne.
Im Radio reden sie von Sibirisch-Hessen.
Und die Schafe lammen draußen.




Ja, denn die Wiesen sind immer noch grün, leckeres frisches Futter für die Herde.





Und, ich hatte schon letztes Jahr darüber geschrieben, lammen Schafe draußen meist problemloser ab. Sie haben mehr Platz sich für die Geburt zurück zu ziehen, stehen sicherer bei ihrem Lamm, werden seltener von anderen Tieren bedrängt.
Natürlich müssen dafür die Voraussetzungen stimmen, dazu gehört besonders auch eine gute Überwachung der Herde.
Alle Gelammten werden in den Stall gefahren, kommen dort in eine Einzelbucht. Hier bleiben sie, bis wir sicher sind, dass das Mutter-Kind-Band fest ist und die Mutter genügend Milch hat. Schafe mit Zwillingen immer etwas länger als Einzelne.


Die Lammzeit startet gleich richtig durch, 20 bis 25 Ablammungen am Tag, ca. die Hälfte davon sind Zwillingen. So haben wir nach zwei Wochen über 300 Lämmer im Stall.
Das alles will gemanagt, überwacht, versorgt werden.
Auch Nachts.

Es ist 22 Uhr.
Mit einem müden Stöhnen wälze ich mich aus dem Bett, schalte den Wasserkocher an.
Ich schlüpfe in Lagen über Lagen dicker Kleider und stopfe die Feuerkammer der kleinen Küchenhexe so voll mit Holz wie es geht. Das Wasser kocht, die Wärmflasche gefüllt und ins Bett gelegt.
Nun in die schweren Schuhe und die Stirnlampe auf die Mütze. Die Hunde stöhnen ähnlich wie ich als sie mir in Dunkelheit und bittere Kälte folgen, lassen sich im Auto sofort wieder zum Schlafen nieder.
Weit ist es nicht bis zur Herde, eine viertel Stunde, einmal durch den Ort.
Die Schafe liegen weit verteilt im Nachtpferch, schlafen.
Zu beginn der Lammzeit waren sie ziemlich irritiert als ich Nachts auftauchte, zwischen ihnen laufen wollte. Nun rühren sie sich nicht, schlafen weiter oder blinzeln in den Schein der Lampe.
Ich kann mich zwischen ihnen bewegen, kein Geräusch in der Nacht. Nur das derer, die gelammt haben, ihre Lämmer begrüßen. Oder die, denen die Geburt bevorsteht, die unruhig sind, leise Grunzen.
So kann ich schon durch Hören ganz gut einschätzen, was mich wo erwartet.
Langsam und ruhig durchstreife ich den Pferch, verschaffe mir einen Überblick, zähle Schafe und Lämmer. Vier Muttern, sechs Lämmer und eine am Machen.
Sehr gut, das bekomme ich verladen, muss nicht zweimal fahren. Das kam auch schon vor, denn mehr als fünf Schafe passen nicht. Ich will nicht prope voll laden, die Heimfahrt soll so entspannt wie möglich verlaufen. Den großen Ifor Williams Hänger mag ich Nachts nicht fahren, müsste ich ihn doch rückwärts hundert Meter an den Stall rangieren und das im Dunkeln mit der spärlichen Hängerbeleuchtung, womöglich für drei Schafe. Nein, Danke, da fahre ich zur Not lieber doppelt.
Die beiden Mütter mit den Zwillingen stehen in unterschiedlichen Ecken, die zwei mit den Einzellämmern stehen beieinander und die, die noch macht, tüddelt an den Lämmern der einen Zwillingsmama rum. Nach der Gebärenden gucke ich nun. Das Lamm liegt richtig, ich sehe die Vorderklauen und darauf das Näschen. Die Füße sind groß, und auch der Schleim ist ziemlich gelb, das darauf hindeutet, dass das Lamm schon übertragen ist. Alles kein Problem und zu jeder anderen Tageszeit würde ich sie noch in Ruhe lassen. Doch nicht jetzt. Als sie sich zum Pressen legt, greife ich sie mir. Vorsichtig ziehe ich abwechseln an den Füßchen, wische den Schleim vom Schnäuzchen.
Oh, das Lamm steckt schon ganz schön fest. Mit den Wehen und dem Pressen des Schafes ziehe ich kräftiger. Da, der Kopf ist raus! Nun noch die Schultern und der Rest flutscht nach.
Ich lege das Lamm der Mutter vor die Nase.
„Guck, was für einen Brocken, fein gemacht!“
Die Mama fängt sofort an mit leisem Grunzen ihr Lamm zu lecken.
Dieses hebt den Kopf, wackelt, schüttelt, zirpt hell.
Immer und immer wieder berührend.
Auch nach all den Jahren.
Auch mitten in der Nacht unter Taschenlampenlicht.
Aber weiter geht’s.
Ich nehme die Zwillingslämmer an den Vorderbeinen hoch und halte sie dabei tief über dem Boden, Bauch und Nabel zur Mutter gedreht. So kann sie ihre Lämmer am besten riechen und sehen.
Als erstes erkennt ein Schaf seine Lämmer am Geruch, dann an der Stimme und zuletzt am Aussehen. So ist es wichtig, dass ich den Geruch nicht mit meinem eigenen verfälsche und auch die Keime mit denen die Lämmer in Berührung kommen, sollen nicht meine sein. Das Schaf brummelt seinen neuen Lämmerruf und folgt, die Nase am Lämmerbauch zum Auto. Selbstverständlich steigt sie hinter ihren Lämmern ein. Ich zücke einen Viehzeichenstift und alle drei bekommen an der gleichen Stelle einen Strich aufs Fell. So kann ich sie später sicher zuordnen, die endgültige Nummer die Mutter und Lamm zusammen zeichnet, gibt es erst in der Einzelbucht.
Das Prozedere wiederhole ich mit den drei anderen Gelammten. Alle folgen sie brav, etwas was einerseits selbstverständlich für gute Mütter ist, andererseits mich jedes Mal wieder freut und erleichtert.
Gerade zwei Nächte zuvor hatte ich zwei Erstlammende. Die eine mit dickem Einzellamm, die andere mit großen Zwillingen. Beide waren begeisterte Mütter, hatten sich gut um ihre Erstgeborenen gekümmert. Doch mir und den Lämmern folgen? Nein! Auf keinen Fall. Totale Hysterie. Schreiend durch den Pferch rennen, aus dem Pferch, um den Pferch. Aber nicht bei den Lämmern bleiben. Ja, mitten in der Nacht, nur im Taschenlampenlicht, es ist viel erwartet von einem jungen Schaf.
Aber eben: Aber!
Die mit dem Einzelnen hätte ich ja noch ohne bedenken draußen gelassen. Das Wetter stört nicht im geringsten. Doch die mit den Zwillingen, Schweinchen mit Namen, die vor zwei Jahren ein Flaschenlamm war? Nein, die musste Heim in eine Einzelbucht.
Was also tun?
Zuerst hatte ich alle anderen Gelammten verladen, gehofft, dass sie sich etwas beruhigen, sehen, dass da noch andere mit Lämmern ruhig am Fahrzeug und auch darin stehen.
Aber nein! Fluchtdistanz von zehn Metern zu mir, da komme ich auch mit dem Fanghaken nicht ran.
Schweinchen! Du warst mal ein zahmes Flaschenlamm!
Interessierte sie jetzt auch nicht, lieber panisch kreischend durch die Gegend rennen.
Was nun?
Ein Hund aus dem Auto lassen? Die Herde zusammen stellen?
Ein Hund im Dunkeln? Das könnte zur Panik bei allen führen. Nein, Scheißidee.
Also rief ich: „Kooum! Kooum!“
Die Herde erhob sich, scharte sich eng um mich.
Danke!
Sie standen dicht genug, um den beiden Kopflosen die Flucht zu blockieren. Ich konnte sie packen und verladen. Geschafft.
Nach ihrem Aufenthalt in der Einzelbucht und der Gewöhnung ans Muttersein sind sie wesentlich entspannter.
Doch heute Nacht hab ich das Problem nicht. Die, bei der ich geholfen habe, kommt als letztes dran, das Lämmchen steht schon, versucht auf staksigen Beinen das Euter zu finden. Auch das überprüfe ich kurz, kein dicker Pfropfen im Weg des Milchflusses. Gezeichnet und Eingeladen. Jedes Lamm oder Lämmerpaar kommt in eine Mauerbütt, die Mutter steht davor. So können sie nicht auf den Lämmern herumtreten. Klappe zu, Heim geht’s.
Doch noch ein Moment, einen ganz kurzen Moment.
Ich mache die Stirnlampe aus, stehe am Pferch.
Die Schafe liegen unter dem weiten Sternenhimmel.
Absolute Zufriedenheit und Stille.
Ich atme tief durch, fühle.
Aus den Fahrzeug brummt und zirpt es.
Heim jetzt!
Vorausschauend steuere ich uns nach Hause, kein abruptes Bremsen, keine schnellen Kurven.
Das einzige Auto, das um diese Zeit noch auf den Straßen ist.
Am Stall schalte ich die Lichter an, entlasse meine Fracht, sortiere die Mütter mit Zwillingen und die frisch gelammte in die freien Einzelbuchten. Die Zwei mit den Einlingen kommen zusammen auf den freien Platz vor den Buchten. Irgendwas scheint mir mit ihnen seltsam.
Aber bevor ich danach gucke, schaue ich nochmal die Buchten durch und die jungen Gruppen. Alles gut hier? Ja. Sehr gut.
Jetzt nochmal nach den beiden Einzelnen schauen. Ein Fuchsschaf, ein Milchschaf, zwei Fuchslämmer. Anhand des Äußeren kann man hier keine Lämmer zuordnen, die Herde ist so bunt gemischt, dass die Lämmer in allen Farben fallen, selten ein Zwilling dem anderen gleicht.
Aber trotzdem, etwas stört mich an dieser Aufteilung. Das Milchschaf ist sich sicher, dass das ihr Lamm ist, hat auch Blut an Hintern und Beinen, was auf Lammung hindeutet.
Aber das Fuchsschaf, sie würde das Lamm der Milchschafmutter dazu akzeptieren, hat auch deutlich gelammt.
Hm.
Ich greife mir das Milchschaf.
Fasse hinten rein.
Und fühle direkt die Hinterfußwurzel eines Lammes.
Steißlage.
Nicht wirklich geweitet, kaum Wehentätigkeit und ziemlich trocken.
Mist! Mist! Mist!
War das Milchschaf nicht schon beim Hüten am Tag mehr als normal gelegen?
Mist!
Ich lasse sie nochmal los, gehe Gleitschleim holen.
Mit ordentlich Schleim an den Händen mache ich mich ans Werk.
Langsam weite ich den Geburtskanal, fühle das, was da kommt.
Steißlage, mit einem angewinkelten Bein direkt vor dem Ausgang.
So passt das Lamm auf keinen Fall durch. Ich schiebe und ziehe bis ich den einen Fuß nach hinten raus haben. Wie komme ich jetzt an den anderen? Es ist zu eng, als dass ich das Lamm zurück schieben und an den anderen Fuß zu kommen könnte.
Das Lamm ist auf jeden Fall tot und das auch schon länger. Ich kann zwar nicht riechen, aber der Gammel ist schon an dem einem Bein, das ich habe, zu merken. Und tatsächlich reißt das bei leichtem Zug auch einfach ab.
Scheiße!
Ich muss doch weiter rein. Mit viel Gleitschleim dehne ich den Geburtskanal.
Die Mama stöhnt, presst und will immer wieder aufstehen.
Endlich kann ich den Steiß greifen, ziehe.
Der Hintern kommt, das andere Bein, der Bauch.
Die verrottete Wirbelsäule bricht, das Lamm zerreißt.
Die Mutter will nicht mehr, zappelt, will weg.
Ich halte sie mit einer Hand, mit der anderen versuche ich mehr von dem Lamm zu greifen.
Kopf, Vorderbeine, Schultern, alles noch drin und meine Finger glipschen von der Wirbelsäule, finden keinen halt. Auch tut meine Hand langsam immer doller weh, schwillt durch den beständigen Pressdruck der Wehen an.
Oh, Mama! Es tut mir so leid!
Wie soll ich hier weiter machen?
Ich kann nicht mehr.
Durchatmen.
Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss die Frühschicht wecken.
Ich lasse die Mama los, versuche meine Hände so weit zu reinigen, dass ich das Handy bedienen kann.
Bitte! Bitte! Geh ran!
„Ja?“ Eine verschlafene Stimme, die ich jetzt umarmen könnte!
Meine Kollegin kommt.
Ich halte die Mutter während sie den Rest des Lammes rausackert.
Das Schaf bekommt einen Antibiotika-Stift gelegt.
Mama! Du hast es geschafft! Und ein schönes Lamm hast Du Dir geklaut! So hast Du wenigstens einen Lohn für all das Elend.
Vielen Dank an meine Kollegin!
Eis von einem Eimer geschlagen und die Hände mit Heu geschrubbt.
Nun die Hunde im Auto geweckt und unter strahlend frostigem Sternenhimmel nach Hause gewandert. Der Ofen ist längst aus, das Hüttchen schon ziemlich kühl.
Aber egal, mein Schlafplatz ist mullerig warm von der Wärmflasche. Ich kuschele mich auf ein Schaffell, unter mein Daunenbett, mit dicker Wolldecke darüber.
Meine kleine Reisekatze kuschelt sich auf die Füße. Die Hunde schlummern in der Vorkammer.
Die Wärme spüren, die Glieder entspannen, morgen früh habe ich immerhin eine Stunde länger.
Schlaf fällt wie eine weitere Decke über mich.


Frühschicht und Spätschicht.
So mancher Schäfer wird jetzt den Kopf schütteln.
Er schafft all das alleine.
Ja, so ist es.
Die meisten Schäferein sind in der Lammzeit nicht anders besetzt, als im restlichen Jahr.
Arbeitet ein Schäfer immer schon wahnsinnig viel, in der Lammzeit leistet er übermenschliches. Da wird dann an Essen und Schlaf gespart.
Der Schäfer ist in einem Zustand der „the walking dead“ gleich kommt.
Noch Geburtsschleim und Nachgeburt auf den Kleidern und selbst ein Zombie würde ihn nicht mehr als essbaren Menschen einstufen.
Deswegen ruft man seine Kollegen auch in der Lammzeit nicht an, hört nicht nach ob sie noch leben. Es ist eine Zeit des Überlebens in den Schäferein.
Weiß Gott, ich habe auch so gearbeitet.
Besonders schlimm die Lammzeit 2013, als dann noch die Grippe zuschlug. Drei Wochen mit Fieber im Stall, von Hurde zu Hurde, mit festhalten, weil ich so erschöpft war. Dann war mein Chef so weit wieder fit, dass er das im gleichen Zustand weiter machen konnte. Eine Woche lag ich im Bett, so schwach, dass ich kaum zur Toilette kam. Die echt noch kleinen Kids waren plötzlich leise, versorgten sich selbst. Und kaum kam ich wieder bis zum Stall ging es weiter. Lammzeit. Die Schafe brauchen einen.
Ich bin zu alt für diese Scheiße!
Bin nur Lohnschäfer!
Und einfach saufroh, die Lammzeit in einem Betrieb zu arbeiten, der besser mit Leuten ausgestattet ist als die normale Schäferei! Danke!


Am nächsten Tag bin ich am Hüten.
Die Schafe stehen weit am Fressen.
Um dieses Jahreszeit haben sie keine Zeit für Flausen. Sie fressen, fressen und fressen.


Oder lammen.
Schon steht da wieder eine und beleckt ihre Zwillinge.


Eine andere ist am Machen.
Da kommt ein Anruf vom Stall.
Heute morgen gab es eine Schwergeburt.
Schlitzohr, eine der vor zwei Jahren zugekauften, hatte eine Fehllage. Das Lamm ist groß und rund. Aber Schlitzohr hat beschlossen es unter keinen Umständen zu wollen. Blöde Huddel! Schwere Geburt ist kein Argument, denkt man an das Milchschaf vom Abend davor, die unbedingt trotzdem ein Lamm wollte. Das gibt ne rote Brackohrmarke.
Aber ja, hier beim Hüten ist eine in der Geburt.
Meine Kollegin kommt mit dem Lamm raus gefahren. Gerade da gebiert das Schaf. Kurz gegriffen und rein gefasst, kein weiteres Lamm, dickes, volles Euter.
Also ihr Lamm genommen und mit dem Verstoßenen zusammen gerubbelt. Außerdem alles, was hinten an Ausfluss nach kommt, über den Kleinen verteilt. Dem Lamm einen neuen Geruch aufmogeln. Schmier.

Und es klappt, die Mama beleckt beide Lämmer gleichermaßen.
Etwas irritiert ist sie, dass ein Kind sofort aufspringt, nach dem Euter strebt.
Aber, was für ein Sohn!
Sie nimmt beide! Juhu!


Die frischgebackenen Mütter und ihre Babys werden verladen und ich hüte weiter.
Es ist ein herrlich sonniger Tag, die Hunde ziehen ihre Bahnen, die Herde frisst und ich beobachte auf meinen Stock gelehnt.
Ab und an lammt noch mal eine. Alles problemlos, die Mütter kümmern sich und die Lämmer sind schnell auf den Beinen.
Das Wetter zieht viele Spaziergänger aus dem Dorf, die sich an den Schafen erfreuen. Ich beantworte geduldig Fragen: „Das Schaf da hinten hat gerade erst das Lamm bekommen. Die Mutter bleibt bei seinem Neugeborenen stehen. Und heute Abend nehme ich es mit nach Hause.“
„Was für ein schöner, entspannter Beruf.“
Ja, ja.
Als ich abends die satte Herde in den Nachtpferch lasse, sage ich nicht: „Gute Nacht.“
Sondern: „Bis später.“