Donnerstag, 27. Oktober 2022

Moor im September 2022

 


Moor!

MOOR!

Da, hier, um mich herum!

Ich bin wieder im Moor!

Mit Schnucken!

Schnuckenhüten im Moor!

Klingt das zu euphorisch?

Vielleicht.

Aber es trifft meine Stimmung. Nicht einmal ansatzweise.

Ich bin überwältigt von meinen eigenen Gefühlen. Diesem Glück, das mich durchströmt.

 


Überwältigt wieder im Moor zu stehen. Lila leuchtende Heide wechselt sich mit tieferen bultigen Pfeifengrasflächen, jetzt im Spätsommer schon hoch im Wuchs, unübersichtlich.

 



Wenig sumpfige Stellen, ja, die heißen Sommer fordern auch ihren Zoll an den Hochmooren.

 



Doch noch entdecke ich Wollgras und Sonnentau, glitzernd in der Sonne, so bezaubernd und tödlich für Insekten. Kreuzspinnen, die am funkelnden Kleid des Altweibersommers arbeiten. Krumme Kiefern und in die Höhe strebende Birken, heftig bekämpft von Schafen und Ziegen.


 

Wilde, unberührte Natur, bedroht durch den Menschen und die von ihm verursachten Umwelteinflüsse. Erhaltenswürdig als Habitat für so viele gefährdete Pflanzen und Tiere. Eine Arbeit, die die Moorschnucken und ihre großen Helfer, die Ziegen, übernehmen. Und ich, ihre Hüterin.

Endlich wieder.

Die letzten sieben Jahre war ich als Aushilfe, Betriebshelferin oder Urlaubsvertretung in ganz Deutschland unterwegs, von der Insel Sylt, im rauen Norden, bis ganz nach Bayern runter, in den unterschiedlichsten Schäfereien, mit tollen Schafen auf faszinierend schönen Weidegründen.

Doch kein Hochmoor.

Wie sehr ich mich dem Moor verbunden fühle, wie tief meine Liebe zu diesem wilden, unwirtlichen Naturraum ist, war mir nicht bewusst. Bis ich nun wieder hier bin und mein Inneres vor Glück vibriert.

Dazu gehören, eng verbunden, was deren Name ja schon verrät, die Moorschnucken. Diese kleinen, genügsamen Schafe, die so oft den Ruf haben, wild und panisch zu sein. Doch sind sie perfekt an Moor und Heide angepasst und gut eingehütet gehen sie eine vertrauensvolle, enge Bindung mit ihrer Hüterin ein. Selbst über die großen Burenziegen freue ich mich. Ja, für Ziegen hege ich sehr zwiespältige Gefühle. Einerseits sind sie individueller als Schafe, andererseits, naja, sind sie individueller als Schafe. Aber gerade Buren sind wesentlich friedlicher, als andere Ziegenrassen und diese hier sind genauso gut in der Spur, wie ihre Schafskollegen.


 


Heute Morgen habe ich die Herde, neben einem kurzen Besuch am Abend vorher, das erste Mal getroffen. Habe von den beiden großen Kangal Herdenschutzhunden, Duman und Melek, Akzeptanz und Freundlichkeit erhalten. Beide kamen freiwillig mit in ihren Feierabend. 

 


Und ich konnte mit der Herde ins unbekannte ziehen. Nicht mehr zur Orientierung, als eine bunte Karte. „Du kannst doch Beweidungspläne lesen?“ Dazu die Ansage, wie weit ich Hüten kann. „Links und rechts bis zum Rand des Moores. Gerade aus, siehst du die große Kiefer da am Horizont? Weiter brauchst du nicht, da waren wir schon von der anderen Seite.“


Und da bin ich, im Hochmoor, blicke in die unendlich wilde Weite, auf die zufrieden rupfenden Schafe und meine fleißigen, nicht weniger glücklichen Hunde. Dazu die vielen Schwalben im Tiefflug über der Herde, verrückte Manöver fliegend, um die aufgescheuchten Insekten zu erjagen, Verbindung von Himmel zu Erde schaffen.


Das Moor hat mich wieder.

Die ersten Tage sind berauschend und doch auch wahnsinnig anstrengend. Alles neu, so viel zu lernen, aufzunehmen, zu merken. Mein Kopf will überlaufen ob all der Informationen. Wie war der Weg von Stall zur Herde, wie viel Wasser saufen sie heute, wie lange braucht es den Tank aufzufüllen, wie viele Tabletten bekommt die Kangalhündin, welches sind die Leitschafe, wie hieß diese kuschelige Ziege, wo finde ich neues Mineralfutter, wie funktioniert das Weidetagebuch, was verkündet die WetterApp, hinkt da ein Schaf, oh, es ist bereits behandelt und markiert ... Abends bin ich erschlagen, wie tot, fühle mich zu alt für neue Herausforderungen. Wie gut, dass nach jedem Tag eine Nacht zum Schlafen, Loslassen kommt.


Und meine Liebe zum Moor mich trägt.


 

Doch es kommt der Moment, da scheint mir selbst das Hüten schwierig und anstrengend. Schafe und Hunde laufen nicht so rund und harmonisch wie ich es mir wünsche. Ich merke, wie ich gereizt werde, meine Stimme heiser. Es ist Zeit, aus meinem Gefühlstaumel zu kommen und die Situation analytisch zu betrachten.

Hüten im Moor unterscheidet sich fundamental von dem Hüten, wie ich es die letzten Jahre betrieben habe. Meist hatte ich da klar begrenzte Flächen, die Hunde sicherten diese Grenzen, bis es Zeit zum Weiterziehen war. Selbst wenn keine klaren Grenzen da waren, gab ich dem Gebiet imaginäre. Ich dachte mir eine Form, Terrain und Herdengröße angepasst, meist doch mit einer festen Furche. Da hielt ich die Herde bis es in die nächste Form ging.


 

Hier, im Moor, funktioniert diese Art zu Hüten nicht, oder nur selten. Der Nachtpferch ist außerhalb auf Grünland. So lange ich diesen Teil des Moores beweide, für gut zwei Wochen, bleibt der Pferch auf der einen Wiese und wird auch da nur versetzt, wenn der Untergrund eklig wird. Ja, die Trockenheit hat dem Grünland zugesetzt, es steht nichts, kein Nachtisch für die Schafe. Abends müssen sie wirklich satt sein. Auch um mittags wiederzukäuen kommt die Herde in diesen Pferch. Ca. zwei Stunden Pause für mich, um zum Betrieb zu fahren, etwas zu Essen, ein kurzer Mittagsschlaf. Das zieht die Tage in die Länge. Auch wenn die Hitze jetzt im September nicht mehr erschlagend ist, die Mittagspause nicht mehr so lang. Geht auch nicht, die Dunkelheit kommt abends nun immer schneller. Und doch ist eine vernünftige Pause nötig, die Herdenschutzhunde möchten nicht einen ganzen Hütetag eingesperrt ausharren, das würde ihre Laune trüben, sie gereizt stimmen. Aufgestauter Frust muss irgendwo hin, in Streitereien untereinander, oder womöglich gegen die eigenen Schutzbefohlenen. Daher die Mittagspause im Nachtpferch: Ich kann die Hirtenhunde wieder in die Herde setzen. Arbeitszeit für sie. So ist aber nicht möglich, die Pause irgendwo anders zu machen, will heißen, es schränkt meinen Hüteradius ein.


Nun ist bei der Moorpflege wichtig, wie bei jeder anderen Beweidung auch, dass die ganze Fläche gleichmäßig beweidet wird. Will heißen, ich kann nicht nahe am Pferch alles runterschrubben und weiter entfernt wächst es davon. So ist täglich richtig Strecke zu hüten. Auch möchte ich in die weit entfernten Gebiete nicht laufen. Erstens verlängert das die Gesamtzeit, zweitens sind es ja keine Wege, ich würde über Flächen trampeln. Also hüte ich beständig aus der Bewegung, die Schafe kommen fressend voran. Dazu plane ich für jede Hüterunde eine neue Route. Immer nach dem Prinzip: Von bereits überweideten zu besserem, frischem Futter. Und das ist nicht das am weitesten entfernte, nein, das Beste muss auch pferchnah sein, will ich doch, dass die Schafe auch auf dem Rückweg noch fressen.


Anderthalb bis zwei Hütestunden sind die am weitesten entfernten Stellen vom Pferch aus. Das braucht Planung und Timing, dazu Schafe und Hunde die mit meinen Vorstellungen mitziehen.

Und nun läuft es nicht so rund, wie ich möchte, ich muss die Hunde zu oft kommandieren, die Schafe haben zu viele Eigeninteressen, machen Fressfronten in andere Richtungen als der von mir vorgegebenen auf.

Warum? Was läuft falsch?

Da sind meine Erwartungen, meine Emotionen. Meine Begeisterung mit Schnucken zurück im Moor zu sein, hat mich einige Fakten vergessen lassen.

Ja, es ist Hochmoor, mir so vertraut, habe ich doch schon vor nun bald dreißig Jahren Schäferin gelernt, im Moor mit Schnucken. Doch dieses Moor kenne ich nicht, war noch nie hier. Alles, was ich zu Orientierung in der grenzenlosen Weite habe, ist die, doch sehr rudimentäre, Beweidungskarte. So muss ich viel mehr laufen, mich mit dem Gelände vertraut machen, was doch gleichzeitig auch Unruhe für die Herde bedeutet, wollen sie sich doch an mir orientieren.


Des gleichen die Schafe, es sind Schnucken, sehr gut eingehütet, willig, meine Art zu arbeiten und mich anzunehmen. Und doch kennen wir uns gerade ein paar wenige Tage, bin ich die Fremde für sie. Der vertraut man noch nicht wirklich, die muss man schon noch testen.

Und zuletzt sind da meine beiden Hunde. Ylva, meine Altdeutsche Strobelhündin, nun seit zehneinhalb Jahren an meiner Seite. Sie scheint genauso glücklich über Hüten im Moor zu sein wie ich, arbeitet unermüdlich, mit viel Schwung und Elan. Zu viel zum Teil, auch oft nicht zielführend. Sie erinnert mich in ihrem Gebaren an einen übermütigen Junghund. Und doch kann ich sie nicht wie einen Jungspund behandeln. Sie ist eine alte Oma und manchmal frage ich mich, ob das nun nicht schon etwas von Senilität hat. So lasse ich sie weitestgehend machen, bremse nur, wenn ich nicht gerade über den totalen Blödsinn, den sie wieder verzapft, lachen muss. Schicken tue ich sie selten, schlägt sie doch über jedes Ziel hinaus, ballert, horcht nicht. 


Die Hauptarbeit hängt also an Lillebror, meinem Altdeutschen Tigerrüden, wie eigentlich schon immer. Doch nun muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass der Hund im November erst sieben Jahre alt wird. „Erst“, da ich schon seit sieben Jahren kein Moor mehr hüte. Will heißen, so vertraut mir das alles ist, Lille kennt kein Hüten im Hochmoor. Er ist klare, glatte, überschaubare Flächen mit deutlichen Grenzen gewohnt. Selbst die Heidegebiete auf Sylt waren durchzogen mit schmalen Spazierwegen, genutzt von den vielen Touristen und von meinen Hütehunden als Grenze.

Hier gibt es keine Furchen, dafür bucklige Bulten, lange, die Sicht nehmende Gräser, Birkengrüppchen, Schafe immer in Bewegung und dann mehr als tausend Tiere. All das ist neu für meinen Hund.

  

Lille hat viel zu lernen und damit er das kann, muss ich wissen, was ich von ihm will.

Wie genau hüte ich?

Ich versuche mir Hütetheorie zu verdeutlichen.

Wenn ich aus der Bewegung hüte und wenig bis keine klaren Grenzen habe, unterscheide ich grob drei verschiedene Methoden.

Die Erste ist, die Schafe fressen vorwärts, ich laufe hinten, gucke, dass alle mitkommen, steuere die Richtung, indem ich den Hund links oder rechts die Flanken einkippen lasse.

Auch wenn ich diese Methode als erstes nenne, tue ich das nur, um sie abgehakt zu haben, denn ich halte von ihr gar nichts. Vielleicht mal, wenn die Schafe nicht voran wollen. Etwas, das eigentlich nur vorkommt, wenn sie nichts Besseres zu erwarten haben, weil das Gebiet runtergeschrubbt ist und sie das wissen. Aber generell lehne ich ab, so zu hüten. Es nimmt all die Möglichkeiten mich mit der Herde zu einer vertrauensvollen Einheit zu formen. Leite ich, wissen sie, es geht über mich zu frischerem Futter - sie folgen, vertrauen mir. Warum sollten Leitschafe bei mir bleiben, wenn ich am Ende der Herde auf dem schon überfressenen Futter stehe? Noch schlimmer, die vorne führenden Schafe bekommen nur durch den plötzlich ballernden Hund Orientierung. - Für sie nicht nachvollziehbar, keinerlei Lernmöglichkeit.

Bei Methode Zwei - ich nenne sie mal Pfeilformation, hat die Herde die besagte Form eines > und ich gehe an der Spitze. Mein Schritt bestimmt das Tempo der Fressbewegung, die mir folgt. Genauso kann ich auch ein paar Meter hinter der Fressfront in der Herde laufen. Der Hund pendelt davor, hilft das Tempo zu bestimmen.  


Das ist sehr praktisch in unübersichtlichem, schwer zu begehendem Gelände, denn die Schafe müssen mir einfach nur folgen.

Nachteilig ist, dass ich die Hunde beim Pendeln oft kontrollieren und abrufen muss. Zumindest so übermütige, wie meine beiden. Drückt der Hund zu doll auf die Flanken, wird der Pfeil zu spitz, die Herde schneller, sie hören auf zu fressen. Auch habe ich immer wieder das Problem, dass irgendwo ganz hinten die Nachzügler eine eigene Front aufmachen. Da habe ich dann plötzlich eine L Form, deren beiden Enden auseinanderstreben. Und wie bekomme ich nun den Hund ans andere Ende, ohne, dass er mir die ganzen nett hinter mir fressenden Schafe zusammen rumpelt? Oder womöglich in den inneren Winkel des L schlägt, die Herde teilt. Bedenkt, es sind über tausend Tiere, das Gelände im Bewuchs so lang, dass der Hund oft gar nicht oder kaum sehen kann. So muss ich meine Position verlassen, laufen, bis der Hund sieht, was zu tun ist. Nun ziehe ich aber so die treu folgenden Schafe mit, verwirre alle.

Und damit komme ich zur dritten Methode, der von mir schon so oft beschworenen D-Formation. Die Herde bildet ein D und ich gehe an einer Seite des D. So fressen die Schafe schon eigenständig vorwärts, und doch gebe ich über meine Position Richtung und Tempo vor.


Für Hütehunde wie meine, die einfach nie die Füße stillhalten können, die beste Methode. Natürlich könnte ich den Hund auch zwingen, nicht zu laufen, nur ist er dann, wenn er laufen muss, so aufgeladen, dass sein Rumpeln die Herde zusammenschrecken lässt. Ja, selbst wenn ich ihn drücke, nicht zu krachen, die aufgestaute Energie kommt doch bei den Schafen an, hat einen ganz anderen Effekt, als wenn sie gewohnt sind, dass an ihrer Fressfront einfach immer ein Hund pendelt. 

 

Auch passiert es mit dieser Methode kaum, dass die Schafe sich über die Flanken abmachen. Die Flanke an meiner Seite des D ist durch Hund gesichert und die auf der anderen Seite begrenze ich, indem ich den Hund bei seinem Vorhalten der Fressfront einfach etwas weiter laufen lasse, oft sieht er es auch selbst.

 


Je bewusster ich mir Hütetheorie mache, welche Methode ich gerade anwende, ob Pfeil- oder D-Formation, wo meine Position ist, was ich von den Schafen und Hunden erwarte, desto mehr flutscht das Hüten wieder.

Dazu schaue ich, dass die Schafe nicht nur durch mein Hüten und die Hunde klare Strukturen haben, auch gebe ich deutliche Ansagen.

Rufe ich, KOOOOM, KOOOOM, möchte ich, dass die ganze Herde folgt.

Sonst kommt der Hund. Aber richtig!


Pfeife ich, laut und schrill, möchte ich, dass ein jedes Schaf seine eigene Position überprüft. Ist es im großen Herdenverband in Richtung zu mir am Fressen, ist alles gut. Hängt Schaf weit zurück, eröffnet womöglich eine Fressfront in eine andere Richtung, weg von mir, dann ist nun Zeit umzudrehen, der Herde und mir zu folgen.

Sonst kommt der Hund. Aber richtig!

Diese Ansage gilt besonders für Ziegen, die es lieben, sich an Gebüschen festzuhalten, darin zu verschwinden. Daher kenne ich diesen Pfiff auch schon unter dem Namen Ziegenpfiff.

Die Herde nimmt all meine Strukturen, meine Führung, breitwillig und gerne an. Dass dies so schnell passiert, zeigt, wie gut sie von ihrer Schäferin eingehütet sind.

So bin ich die ganze Hütezeit hoch konzentriert, immer am Leiten und Managen.

Zur Belohnung gibt es diese Momente, gegen Abend, auf frischem Futter, wenn die Herde frei und weit steht, frisst, die Hunde nichts zu tun haben, müde vom Tagewerk neben mir ruhen und ich einfach nur schaue. Auf weit verteilte Schafe, bereits satte Ziegen, tschilpende Schwalben, das unendliche Moor, kaum übertroffen von der Weite des Himmels.


Tiefer Friede um mich, in mir.


Feierabend.


 



2 Kommentare:

  1. Nessa- Schafverliebt29. Oktober 2022 um 13:08

    Vielen Dank für deinen Bericht! Klingt echt traumhaft!

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  2. Wunderschöne Eindrücke und tolle Bilder;)

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