Sonntag, 14. Juni 2020

Sylt



Nachmittags.
Mit 12°C, kaum Wind und Sonne ist es der zweite warme Tag.
Warm bedeutet auf Sylt im Mai, dass ich für die zweite Hüterunde die lange Wollunterwäsche unter der gefütterten Hose und die Fellweste über den zwei Wollfliesjacken weglasse. Die dicke Marineoffiziersjacke bleibt an.
Die Schafe dürfen aus dem Pferch.


Nach nun zweieinhalb Wochen kennen sie mich, die Hunde, meine Routine. So fangen sie gleich an Heide zu fressen, die Hunde laufen die Grenze zur leckeren Pferchwiese.


Ich klappe noch eben den Zaun auf für das schon vorbereitete frische Stück Nachtpferch. Immer nur einen kleinen Nachtisch in einem großen Pferch. Groß ist er, damit die Schafe Fluchtraum haben vor eventuell angreifenden Hunden.
Plötzlich sehen ich die Schafe zusammen laufen und in wildem Galopp über die Grenze meines Hundes rennen.
Wie dreist Lillebrors Nettigkeit so auszunutzen!
Ich lasse alles stehen und liegen, renne auch, animiere Lille seine Grenze zu halten.
Da sehe ich hinter der Herde einen Dalmatiner stürmen, dahinter die Besitzer.
Oh, die Schafe haben gut schnell reagiert, noch ist der Hund nicht in der Herde.
Ich renne, vielleicht kann ich ihm den Weg abschneiden.
Die Schafe peitschen wild durcheinander.
Erst nun sehe ich das kleine, schwarze Etwas zwischen ihnen. Schnell wie eine Flipperkugel, wie irre die verängstigten Tiere hetzen. Es ist eine französische Bulldogge. Unter anderen Umständen würde ich vielleicht bewundern, dass es tatsächlich ein seltenes Exemplar seiner Art ist, das genug Luft bekommt, um sich wie ein Jagdterrier zu gebären. Dang!! Qualzucht hat seine Vorteile.
Die Frau hat geschafft den Dalmatiner zu sichern, ihr Partner versucht die Bulldogge zu erwischen.
Ich auch.
Und brülle und animiere meine Hunde den Räuber zu packen.
Aber Lille und Ylva, gewohnt, das Spaziergängerhunde grundsätzlich Tabu sind, verstehen meine Ansage als Aufforderung die Herde unter Kontrolle zu bringen. Etwas, was natürlich völlig unmöglich ist und beide Hunde total aufputscht. Sie greifen sich abspritzende Schafe und ich muss auch noch nach ihnen rennen und schreien. Sie reagieren zwar, aber jedes Mal, wenn ich wieder nach der Bulldogge schaue, die dank ihrer Größe, Wendigkeit und Schnelle zwischen den Schafen untertaucht, starten meine Hunde erneut durch. Das Frauchen mit dem Dalmatiner, anstatt ihren Hund zu jagen, rennt plärrend auf meine los.
Die Schafe sind in totaler Panik und versuchen doch, zusammen zu bleiben, kreiseln, scheppern über den dünnen Draht der, in Schafbrusthöhe installiert, Besucher auf den Wegen halten soll.
Oh, Gott, hoffentlich bricht sich keiner was.
Endlich, endlich hat der Typ es zwischen Herde und seinen Hund geschafft, bekommt ihn bei seinem erneuten Anflug auf die Schafe am Geschirr gepackt, lupft das zappelnde Biest hoch in die Luft. Frauchen kommt mit Leine und Dalmatiner.
Ich rufe meine Hunde ins Platz, fordere die Adresse und Telefonnummer.
Ich werde ignoriert, also eile ich ihnen nach, zücke das Handy und filme, fordere weiter die Adresse. Da dreht sie sich um, schreit mich an, was ich mir einbilde, sie hat gerade geholfen meine Hunde von den Schafen abzuhalten, ich sollte ihr Dankbar sein.
Zorn und Adrenalin kochen in mir über, ich brülle aus voller Lunge, dass es ihr kack Köter war, der meine Schafe gejagt hat. Meine Hunde hatten nur versucht für Ordnung zu sorgen und waren mit der Situation hoffnungslos überfordert. Ich filme, würde jetzt die Polizei rufen.
Zurück kommt, soll ich doch, sie würde mich Anzeigen, weil meine Hunde die Schafe gebissen hätten und ich ihr zu nahe gekommen bin.
Von hier ab wird die Konversation definitiv nicht besser. Auch die Lautstärke nicht, verpissen die beiden sich doch nun zügig.
Während ich natürlich bei der total verängstigten Herde bleibe.
Ich rufe meine Chefin an, schicke das Video. Sie sagt, sie kümmert sich, macht die nötigen Telefonate und ist sehr aufbauend.


Da stehe ich.
Da stehen die Hunde.
Da stehen die Schafe.
Dicht an dicht, keiner frisst.
Der Schock hält die Zeit still.
Wir stehen.


Irgendwann besinne ich mich, rufe die Schafe:
„Komm man, Schoppi!“
Die Hunde behalte ich bei mir.
Und sie folgen, zögerlich.
Ein Ortswechsel, frisches Futter und langsam fangen die ersten an zu fressen.


Hat es mir jetzt alles versaut? All das gerade erst entstehende Vertrauen? Werden sie meine Hunde nun als Bedrohung sehen?
Da kommt eine Freundin meiner Chefin, von ihr gesandt, einen großen Eisbecher in der Hand. Nervennahrung für mich. Mir kommen fast die Tränen. Ich höre liebe Worte und bekomme einen dicken Drücker.
Ja, ich weiß, nicht richtig mit der momentanen Lage. Und doch brauche ich ihn so nötig.
Das Eis kickt meinen Blutzuckerspiegel wieder hoch, das Zittern, das irgendwo ganz tief in mir drin ist, verschwindet. Ich löffele den ganzen Becher. Sage herzlichen Dank.
Die Herde frisst, doch schreckt sie immer wieder nervös zusammen. Ich beobachte sie, versuche Verletzungen auszuschließen. Auch die Umgebung habe ich im Blick, ängstlich den nächsten Hund erwartend. Es wird spät, bis ich sie einsperre und trotzdem ich total erschöpft bin wird es eine schlaflose Nacht.
Der nächste Tag zeigt, dass mein Gedankenkarussell und Furcht unbegründet waren. Die Schafe schenken mir und den Hunden das gleiche Vertrauen wie zuvor.


Was die nächsten Tage bleibt, ist eine erhöhte Schreckhaftigkeit. Besonders bei tief fliegenden, schwarzen Schwalben die plötzlich aus dem Augenwinkel schießen. Da drüber kann immer noch der ganze Haufen zusammen springen. Aber alles weitere ist wieder Alltag, den ich in vollen Zügen genieße.


Hüten, auf Sylt, in dieser einmaligen Kulisse, mit diesen Prinzessinnen von Schafen. Ja, sie erwarten einen guten, respektvollen Umgang. Dafür geben sie aber auch so viel zurück. Ihre Zuneigung, ihr Vertrauen, ihre Kooperation.


Halt.
Wundert sich jemand?
Was?
Wie?
Sylt??
War sie nicht gerade noch in der Eifel?
Ja.
Stimmt.


Ich war ab ende April in der Eifel.
Nach fünf Wochen Corona Pause. War ich froh, dem zu entrinnen!
Chefs Frau zu drücken, der erste Körperkontakt seit dem wir uns zum Abschied berührten, fünf Wochen zuvor. In die Schäferei eintauchen, die Welt da draußen vergessen.
Und dann Frühling!


Meine liebste Jahreszeit! Mai! Alles sprießt, grünt und blüht!
Futter satt für die Schafe, die dieses Jahr so friedlich sind. Kein Misstrauen mehr, sie folgen mir begeistert in die neuen Futtergründe.


Ich baue Netze und es ist nicht zu heiß, nicht zu kalt, meine Gedanken fliegen. Das Leben ist perfekt.




Naja, fast.
Da ist der Schwarzdornstachel den ich mir bis auf den Knochen ramme. Mein Daumen schwillt an, wird heiß, pocht. Schmerz, der den ganzen Arm hoch zieht. Natürlich ist es der Abend des 30. April. Drei Tage keine Möglichkeit zum Arzt zu gehen und es ist ja auch nicht die Zeit, wo du mit Verdacht auf Blutvergiftung in ein Krankenhaus möchtest.


Doch wie es auf dem Dorf ist, jeder ist für jeden da, ich bekomme Schwedenkräuter und Quarkwickel und nach dem langen Wochenende ist auch klar, dass es ohne ärztliche Hilfe heilen wird.
Zäune bauen ist für eine Weile die Hölle, abbauen geht ein paar Tage sogar gar nicht. Doch werde ich tatkräftig Unterstützt.


Hauptsächlich richtet sich der Betrieb nun auf die Schur aus. Normalerweise wird ende April geschoren, schwierig dieses Jahr. Die Scherer aus Polen dürfen erst nicht Einreisen, dann dürfen sie nicht zusammen im Auto kommen. Die Scherer hier haben einen proppe vollen Terminkalender. Und überhaupt. Schur, das sind Scherer, Aufträger, Wollestopfer, Schweiß, laute Stimmen, alle dicht aufeinander.
Und doch können Schafe auch nicht ungeschoren davon kommen.
So sind wir am Vorbereiten. Die Herde muss Heim, drei Tagesmärsche durch herrlich grüne Wälder.





Und Sortieren steht an, alle dicken Bocklämmer raus, den Rest entwurmen.




Abends bin ich so erschlagen, dass kein Schlaf kommt.
Mein Talent: Es wird Anstrengen, ich weiß nicht genau was Ansteht, bin Erschöpft, völlig Egal, auf jeden Fall in einem Zustand, wo Schlaf die beste Hilfe wäre, aber nein, ich verzichte dankend.
  Dochvermutlich kennt jeder solche Nächte.
Nachts um eins bekomme ich eine WhatsApp. Der Schäfer einer Freundin ist plötzlich unpässlich, die Herde muss auf der Insel gehütet werden, die auf dem Festland ist mitten in der Lammzeit. Hilfe!
Meine erste Reaktion: Fuck!
Zweite: Nein!
Dritte: Du könntest es tun!
Vierte: Ich will nicht!
Fünfte: Sie ist eine Freundin!
Also kein Wunder, dass danach auch nicht wirklich Schlaf kommt.
Ja, bei meinem Lebenslauf und Wandel glaubt es mir keiner, aber ich hasse neue Situationen. Und erst recht plötzliche Planänderungen. Und das in der Schäferei, wo dies alltägliche Norm ist. Aber tatsächlich versuche ich mich auch nicht von meinen Gefühlen klein kriegen zu lassen. Dinge nicht zu tun, zu verweigern, nur weil der Bauch in Angst rumort? Nein! Da geb ich mir einen Tritt, da muss ich durch!
So spreche ich am nächsten morgen mit meinem Chef. Die letzte Hoffnung, vielleicht sagt er ja, er braucht mich.
Aber nein, das Gegenteil ist der Fall, ich soll fahren, gleich, noch vor der Schur. Sie bekommen das schon gewuppt.
So, kein zurück mehr.
Ich belade mein Auto mit all den Sachen die ich hier in der Eifel gelagert hatte, inklusive alle Winterklamotten. Und Heim geht es, 670 Kilometer nach Lübeck.
Oh, wie schön, mein Garten blüht und die Katze freut sich.


Ich erst! Ein Abend mit Kind, eine Nacht im eigenem Bett. Ich lade nur die dreckige Wäsche aus, wasche sie durch. Für alles andere fehlt mir der Nerv. Was brauche ich sonst noch auf der Insel?
Und am nächsten Tag geht es auch schon weiter nach Sylt.


Gott, bin ich aufgeregt!
Könnte ich nicht schon eine Woche da sein? Die Situation kennen?


Das bin ich jetzt, nicht nur eine Woche, sondern drei.
Habe ich erwähnt das ich es Liebe?!


Selbst das Wetter, das nicht nur beständig windet, sondern zu Anfang so kalt war, das mir die Dezember Kleidung der Eifel nicht ausreichte, ich mir ein Päckchen Wollsachen von Zuhause nachschicken habe lassen. Wie gut, dass ich nichts Ausgeladen hatte!


Das Meer!


Der Himmel!


Dieser Blick!


Und erst die Schafe!
Fjordlandschafe.


Nicht nur die schönsten Schafe, die ich je gesehen habe.


Auch und besonders in ihr Wesen habe ich mich verliebt. Ihre Aufmerksamkeit mir gegenüber. Es ist so deutlich zu merken, dass sie gewohnt sind, gut behandelt zu werden und ihrer Chefin zu vertrauen. Frauenschafe.


Ihre Begeisterung für Heide, Krähenbeere, Kartoffelrosen, die sie nicht nur widerwillig nibbeln sondern mit echter Leidenschaft futtern.


Ach, dies könnte mein Platz sein!
Genau meine Arbeit!
Nicht dieses Jahr, noch sind die Kinder nicht flügge genug um einen ganzen langen Sommer auf die Mutter zu verzichten.
Aber vielleicht nächstes Jahr!
Und plötzlich verliert das leere Nest seinen Schrecken!
Zufriedens Lächeln hier!