Mittwoch, 4. August 2021

Meine Großmama

 


„Es sind die Menschen

Die man liebt,

für die das Leben sich lohnt.“

Dies schrieb mir meine Großmutter zu ihrem 90. Geburtstag vor nun drei Jahren im Juli 2018.

Wir hatten groß gefeiert, neunzig war ein Ziel, das sie unbedingt erreichen wollte.

 



Und sie lebte weiter, für ihre Kinder, Enkelkinder und Urenkel. Unsere Liebe trug sie, ihr sorgen um uns. Diese Entschlusskraft blieb stark und ungebrochen, selbst als der Körper an vielen Stellen aufgab. Ihr Wille hielt sie aufrecht.

Im Frühjahr 2020 sagte sie mir, dass es nun langsam doch reiche, sie könne nicht mehr. Doch sie wollte noch unbedingt bis Ostern durchhalten. Da war eine Familienfeier geplant, wir alle würden zusammenkommen, ein weiteres Frühjahr feiern.

Und dann schlug Corona ein.

Pandemie.

Meine Großmutter, eine Hochrisikoperson.

Würde sie Corona bekommen, wäre sie eine von denen, bei der es dann heißen würde, naja, bei dem Alter war es ja wohl eher mit als an Corona.

Nein, so wollten wir sie nicht verlieren.

Und auch für sie kam Sterben nicht in Frage. Nicht, so lange wir nicht alle zu ihrer Beerdigung kommen könnten, wie sie mir bei einem unserer täglichen Telefonate mitteilte.

Doch waren es schrecklich einsame Tage. Isoliert in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in einer Wohnanlage für Senioren. Jedes Treffen war verboten, auch nicht mit den direkten Nachbarinnen, die Mahlzeiten wurden vor der Tür deponiert. Und dies nicht selbstentschieden, es war auferlegt. Der einzige Kontakt in die Außenwelt das Telefon. So sprachen wir täglich.

Dies behielten wir bei, auch nachdem dieser Irrsinn der Kompletisolation als genau das benannt wurde. Ab Sommer durfte sie wieder Besuch empfangen, der sich vorher eintrug und anmeldete, und wir konnten sie abholen. Auch die Treffen mit ihren Freundinnen im Haus waren endlich wieder erlaubt.

Zu wackelig für sicheres Laufen organisierte sich meine Großmutter einen elektrischen Rollstuhl und war wieder selbständig in den Etagen unterwegs, konnte an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen. Leben und Hoffnung kehrte zurück.

Ende August rief ich wie jeden Tag bei ihr an. Sie nahm nach einem kurzen Moment ab und sagte: „Ich rufe Dich gleich zurück.“

Dieser Rückruf kam nicht, und schon da war ich besorgt.

Ja, denn meine Großmutter hatte gemütlich in ihrem Ausklappsessel einem Hörbuch gelauscht als das Telefon klingelte. Sie schreckte hoch und war leicht genervt, dass es mal wieder auf der Station stand, nicht wie gehofft auf dem kleinen Beistelltischchen.

Half ja nichts, sie sprang auf, eilte zum Telefon, schnell, bevor der Anrufbeantworter dran gehen würde. Beim Abheben wurde ihr schwindelig. So sagte sie ihrer Enkeltochter, sie rufe zurück. Damit griff sie Halt suchend nach ihren so heiß geliebten antiken Stühlen, schön anzusehen, hohe Lehne, aber nicht sehr standfest. Der Stuhl fiel mit ihr, krachte hart zu Boden. Und da war noch mehr Krachen. Im eigenen Körper.

Schmerzen, unvorstellbare Schmerzen.

Drücken auf das Notrufarmband.

Warten, warten.

Schmerz!

Niemand der kam.

Niemand.

Doch da war doch noch das Telefon, mit ihr zu Boden gegangen.

Mit diesem konnte sie schließlich Hilfe rufen.

Im Krankenhaus wurde ein Oberschenkelhalsbruch diagnostiziert der sofort operiert werden musste.

Banges Warten für uns.

Aber meine Großmutter überstand nicht nur die Operation, sie erwachte auch klar aus der Narkose. Etwas was in ihrem Alter keineswegs selbstverständlich war.

Ich wollte sofort alles liegen und stehen lassen und zu ihr eilen.

Aber halt, wir waren ja unter Corona Schutzmaßnahmen. Im Krankenhaus gab es eine Besuchsstunde am Tag für nur ein und dieselbe Person. Das war meine Mutter.

Eine Stunde.

Das hieß dreiundzwanzig Stunden alleine, im Bett, unter Schmerzen.

Auch wenn die Schwestern unglaublich bemüht waren, meine Mutter sogar länger bleiben durfte, viel zu viel einsame Zeit.

Vom Krankenhaus sollte sie in die Reha. Auch da gab es die Besuchsproblematik, und meine Großmutter war weit entfernt davon wieder auf die Beine kommen.

Was tun?

Klar war, sie brauchte rund um die Uhr Betreuung. Und auch, wenn man in ihrem Zuhause in der Seniorenanlage viel zubuchen konnte, war es kein Pflegeheim. Letzteres wäre nicht nur Fremde, auch gab es wieder die Besuchsrestriktionen.

Da war dann das Telefonat mit meinem Onkel. Er sah den Plan seiner Schwester ihre Mutter nicht in Reha zu schicken als richtig, aber sie brauche 24/7 Betreuung. Und nun seine Frage an mich, ob ich das vielleicht übernehmen möge. Das bisschen, was ich als Schäfer verdiene, können sie auch zahlen. Ich sollte es mir gut überlegen.

Meine Antwort war, da gibt es nichts zu überlegen, das mache ich.

Sprach ich, obwohl ich doch noch nie gepflegt hatte, immer gesagt hatte, das ist nichts für mich, kann ich nicht. All das spielte keine Rolle, meine Großmama brauchte mich, ich war da.

Ihr verdanke ich diesen Willen, diese Entschlossenheit, Dinge die richtig sind einfach zu tun. Und dazu noch so viel mehr.

Meine Großmutter war immer, immer für mich da.

Mit all ihrer Liebe und Führsorge. Aber auch mit ihrer Vorstellung von Richtig und Falsch, von Anstand, von Leistung.

„Lernen ist wie Rudern gegen den Strom, hört man einen Augenblick auf, so treibt man zurück.“

  

Meine Großmutter war eine Dame von Welt. Sie hatte diese sogar bereist, war durch Pyramiden in Ägypten, Maja Gräber in Mexico oder über die Chinesische Mauer geklettert.

Mir hatte sie nach meiner Ausbildung zur Schäferin einen zweimonatigen Roadtrip durch die USA finanziert, meine Schulbildung und so viel, viel mehr.

Ja, dass ihre Enkeltochter beschloss mit achtzehn Jahren eine Schäferlehre zu beginnen, um von diesem Beruf auch nie wieder loszukommen, das gefiel ihr lange nicht. Arbeiten mit dummen Schafen, das war doch ordinär, da gab es doch besseres. Und doch ließ sie mich auch, blieb mit all ihrer Liebe hinter mir.

Es dauerte bis 2015, dass sie ihre Ansichten zur Schäferei änderte. Das Jahr in dem ich anfing Berichte über meinen Schäferalltag zu schreiben. Diese schickte ich auch immer zu ihr. Sie änderte ihre Meinung vollständig, entdeckte ihre Begeisterung für Schafe, Hüten und all das, was für uns zur Schäferei dazu gehört. Und sie war bereit zu sagen, dass sie sich geirrt hatte, dass sie von Vorurteilen geleitet war. Sie verschlang meine Berichte, nicht nur die Geschichten, auch das Fachwissen. Plötzlich wurde ich bei unseren Telefonaten über Beweidung, Hüten und Schafrassen gelöchert. Bei welchen Schafen ich denn gerade war? Den kleinen zotteligen (Schnucken), den dicken, großen (Schwarzköpfen) oder denen mit den großen Ohren (Merino), selbst die Rasseeigenschaften versuchte sie zu verinnerlichen. Immer auch war die Landschaft in der ich gerade hütete wichtig, musste ich genau beschreiben. War ich im flachen Moor, sah ich dort Schlangen oder Sonnentau?

Im Westerwald? Da rezitierte sie:

„O du schöner Westerwald,
über deine Höhen pfeift der Wind so kalt,
Jedoch der kleinste Sonnenschein
Dringt tief in's Herz hinein.“

In der Eifel, da waren doch die großen Schafen mit den schwarzen Köpfen. Dem Land ihrer jetzigen Heimat der Pfalz an der Weinstraße so ähnlich, nur dass der Fels nicht rot, sondern gelb war.

Oder war ich im Schwäbischen, der Heimat ihrer Kindheit, jedes Detail beschrieb ich ihr.

Das machte sie glücklich und was war sie Stolz auf mich. Jedem erzählte sie von mir, gab meine Berichte weiter. Ihr einziges Bedauern, dass es zu spät war, um sich alles selbst anzusehen. Wie gerne wollte sie mit mir draußen auf der grünen Weide stehen, mit der Herde wandern.

Im Frühsommer 2020 ging es für mich tatsächlich nach Sylt!

 

 

Sylt!

Das machte für sie alles wett. Auch, dass ich sie nicht wie bei Arbeiten auf den Betrieben im Süden einmal im Monat besuchen konnte.

Sylt!

Das war ihre gefühlte zweite Heimat. Schon als kleines Kind war sie mit ihren Eltern jeden Sommer auf der Insel, ihr jüngerer Bruder hatte hier laufen gelernt. Ihre Eltern waren sogar zu Ehrenbürgern von Wenningstedt erkoren worden. So lange sie konnte, war sie jeden Sommer auf der Insel gewesen. Viele Geschichten, die sie mir begeistert erzählte. Ich beschrieb ihr all die Orte, die ich sah, wurde von ihr gelotst.

Das musst Du dir unbedingt anschauen! Dort, die Sylter Torte, das ist die beste!

Ich machte Bilder, schickte große Abzüge.

Und sie war begeistert, überredete mich nach einer alten Jugendfreundin zu forschen. Diese kam auch aus Reutlingen, hatte sich auf Sylt verliebt. Damit sie ihren Liebsten treffen konnte, hatten meine Urgroßeltern sie auf ihren Fahrten zur Insel mitgenommen.

Das Ausfindigmachen dauerte etwas, denn natürlich war das „junge, kleine Mädchen“ dann ja doch nur einige Jahre jünger und damit in den Achtzigern. Auch war der gegebene Nachname der Mädchennamen und keinem auf der Insel bekannt.

Doch eine befreundete Insulanerin half mir, ich bekam die Telefonnummer und nach drängen fand ich den Mut da einfach anzurufen. Prompt wurde ich zum Kaffee eingeladen und hatte einen der schönsten Momente auf der Insel. Bei diesem alten Paar im Garten am Kaffeetisch. Sie Hutmacherin aus der schwäbischen Großstadt, er Landwirt auf Sylt. Sie erzählten von ihrem Kennenlernen, von den Begegnungen mit meiner Familie, vom Leben auf der Insel. Nicht immer leicht, doch nun waren sie umgeben von Kindern, Enkeln und Urenkeln. Beide zeigten echtes Interesse an mir, meinem Leben, forderten mich auf, mir einen „jungen“ Mann zu suchen, mit ihm alt zu werden.

Er sagte, alt werden ist hart, schmerzvoll. Sie antwortete, das mache nichts, solange sie mit ihm sein kann. Dabei sahen sie sich an, als hätten sie sich gerade gestern verliebt.

Wie schön all dies meiner Großmutter später berichten zu können.

Sylt. Vielleicht wieder nächstes Jahr.

 


 

Nun gilt es Dinge zu regeln, bin ich doch nicht einmal Zuhause. 1000 Kilometer Umweg? Keine Zeit!

Uns rennt die Zeit davon.

So klemme ich mich ans Telefon, organisiere und finde Verständnis, dass ich meine Aushilfe in der Eifel auf ungewisse Zeit aussetze.

400 Kilometer geht es in die Pfalz, in zwei Tagen soll meine Großmutter aus dem Krankenhaus entlassen werden, die Hunde müssen noch in den Taunus.

Ja, das ist treue Freundschaft, wenn auf Nachfrage kommt:

„Bring die Hunde! Ich mach das! Kümmer Du Dich um Deine Oma.“

Bevor ich zu dieser Tour starten kann, der Anruf meiner Mutter aus dem Krankenhaus: „Komm, jetzt! Kämpf Dich rein. Morgen siehst Du sie vielleicht nicht mehr.“

Also zum Krankenhaus, das keinen Besuch erlaubt. Ich bin entschieden.

Sie werden mich nicht wegschicken!

So schwierig ist es gar nicht, ein Telefonat mit der Station und ich bekomme die Erlaubnis für zehn Minuten hoch zu kommen. Fast macht mir diese Einfachheit, diese Bestätigung, noch mehr Angst.

Oh, und die Furcht ist begründet.

Habe ich meine Großmama nicht gerade vor vier Wochen gesehen?

Immer noch so voller Energie?

Nichts finde ich in dieser kleinen Person, leblos verschwindend in all dem Krankenhausweiß. Der Blick ist schon weit weg, aufgegeben. Und doch scheint sie mich zu erkennen, ich halte ihre pergamentene Hand, verspreche, dass sie nur noch eine Nacht durchhalten muss, dann bin ich da.

Morgen kommst Du Heim!

Ich bin dann bei Dir!

Für immer! Versprochen!

Eine Nacht, Du schaffst das!

Nach zwanzig Minuten der Abschied. Nun noch 100 Kilometer in den Taunus und wieder zurück. Immerhin bin ich beschäftigt. Die Nacht ist lang, das Bangen groß. Doch als ich am nächsten Morgen erwache glüht die Freude.

Kein Anruf! Es kam kein Anruf! Die Nacht ist um, alles wird gut!

Die Entlassung sollte Stunden dauern, und doch kommt meine Großmutter gleichzeitig mit mir in ihrer Wohnung an, wird in den Sessel geladen da das bewilligte Krankenhausbett noch nicht montiert ist.

Plötzlich bin ich Vollzeitpflegerin.

Mein Wille muss die nicht vorhandene Erfahrung ausgleichen.

Immerhin bin ich nicht alleine, meine beste Freundin seit Kindertagen, längst erfahrene Ärztin, kommt mit allerlei hilfreichen Informationen. Auch unterstützt sie mich in dem Gespräch mit der Person, die in der Seniorenwohnanlage zuständig für die zusätzliche Pflege ist. Es wird vereinbart, dass morgens und abends Hilfe zum Waschen kommt. Das ist eine große Erleichterung, jede noch so dumme Frage wird mir gerne beantwortet. Ich lerne im Crashkurs über Pflege, Lagerung einer bettlägerigen Person, Katheder entleeren, Toilettenstuhl, Sauerstoffgerät. Ich habe die Gewissheit, dass jemand professionelles einen Blick auf meine Großmutter hat. Dazu bekomme auch ich immer ein paar aufmunternde, bestätigende Worte, dass mein Tun richtig ist. Zu organisieren ist Verbandskontrolle, zweimal die Woche Krankengymnastik, Vollmachten, häuslicher Arztbesuch und ein Gesprächstermin mit dem Ambulanten Hospitz- und Palliativ-Zentrum.

All das bekomme ich gewuppt, und es spielt doch keine wirkliche Rolle.

Denn meine Großmutter erwacht zu neuem Leben!

Daheim in ihrer Wohnung, umgeben von all den vertrauten Dingen, an denen sie so sehr hängt. Endlich nicht mehr alleine.

Ich bin da, immer.

Ja, versprochen!

Ich gehe nicht mehr weg!

Nein, auch nicht zu den Schafen. Mach Dir keine Sorgen! Es ist alles organisiert, ich bleibe auf immer bei Dir!

Juhu!

All ihre Lieben kommen zu besuch. Kinder, Enkel, Urenkel, Patenkind, Nichten und ihre Schwestern, die eine älter, die andere jünger. Meine Großmutter erblüht, Hoffnungen werden wach, vielleicht berappelt sie sich ja doch. Hat nicht ihr eiserner Wille sie vor sieben Jahren aus einem Schlaganfall wieder auf die Füße gebracht?

Doch die Nächte erzählen eine andere Geschichte.

Da kommt kein Schlaf, da kommen Angst und Schmerz. Der Krankenhausaufenthalt bleibt als Folter in Erinnerung. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass noch mehr Menschen einem Böses wollen? Kein Schlaf und Angst. Auch meine Zusicherung gleich nebenan zu sein, dort zu schlafen, reichen nicht aus. Ja, schon am Tag muss sie rufen, wenn ich nur zur Toilette bin. Und nun ist Nacht, ich grenzenlos erschöpft.

Es zeigt sich, dass die Nächte sie schon seit Monaten verfolgen. Nur dass sie dies dann ausgelaufen hatte. Mit dem Gehwagen über leere Flure geistern, den eigenen Gedanken entfliehen.

Man könnte es Wahn nennen, Paranoia, und doch ist es am Ende einfach angst.

Angst vor dem was kommt.

Angst nicht mehr selbständig zu sein, sich nicht selbst versorgen zu können.

Angst nicht mehr für uns da zu sein.

Angst vor dem Sterben.

Und Erschöpfung. Denn sie ist eine Kämpferin, zwingt ihren Körper über alle Grenzen, über alles belastbare Maß hinaus. Der zuckt, kribbelt zur Nacht, es kommt keine Entspannung.

Ehrlich gesagt, auch ich bin nachts nicht wirklich geduldig, Erschöpfung und Müdigkeit machen mich angespannt.

Es erinnert mich an die Nächte mit kleinem zahnenden Stillbaby oder reizüberflutetem Zweijährigen. Doch den konnte ich an meine Brust legen, auf und ab tragen, wiegen und trösten, seine völlige Empörung und Schreien als Überladung erkennen, Ruhe geben.

Und im Grunde ist es genau das, was meine Großmama nun braucht. Mich an ihrer Seite, groß, mütterlich. Meine Erschöpfung verunsichert sie, macht ihr Angst.

Hier kommt die Beratung durch das Ambulante Hospiz-Zentrum und die weitere Betreuung als Segen. Das Gespräch findet mit meiner Großmutter statt. Es wird erklärt, dass die Hospizärzte keine Sterbehilfe leisten. Aber dass eine gute palliative Betreuung jede Sterbehilfe unnötig machen. Es gehe nicht darum, jemanden mit Medikamenten abzuschalten. Im Gegenteil, die Person solle so klar und wach wie möglich sein, nur eben nicht leiden, keine Schmerzen mehr haben. Meine Großmutter nimmt dies alles mit Erleichterung auf. Ja, am Tag, da sagte sie gerne: „Lieber Tod, als Arschabwischen.“ Dies sogar mit einem Zwinkern, denn nie würde sie sich im Ernst solch vulgärer Worte bedienen.

Und doch ist Scherzen am Tag das eine, die Angst des Nachts etwas anderes. Ich werde in dem Gespräch gestützt, auch auf mich zu achten.

Sonst halten Sie das nicht lange durch.

Ich organisiere, damit ich abends für zwei bis vier Stunden von einem Familienmitglied, meist meiner Mutter, abgelöst werde. Nun kann ich mich auf in den Wald machen, wandere im immer dunkler werdenden Herbst durch den Pfälzer Wald, um später in der Stadt zu essen. Sogar ein Treffen mit alten Schulkameraden wird möglich, über 30 Jahre nicht gesehen und doch bringt die gemeinsame Vergangenheit eine unerwartete Vertrautheit.

 


Komme ich zurück ist meine Großmutter kurz vorm Schlafen oder schon eingeschlafen, auch dank helfender Medikamente. So kann ich selbst etwas Schlaf fangen, bis sie zwischen zwei und drei Uhr in der Früh wiederkommt. Bald bin ich, wie damals schon bei meinen Babys, oft schon vor ihr wach, lausche besorgt auf ihren Atem. Erneut Medikamente zu geben ist schwierig, doch immerhin erinnert sie sich am Morgen nicht mehr daran. Und ich weiß irgendwie, es nicht persönlich zu nehmen. Ja, es ist belastend, und doch habe ich auch nachts Unterstützung. Meine Freunde auf der anderen Seite der Welt, für sie ist jetzt gerade Nachmittag. So kann ich ohne schlechtes Gewissen Kontakt halten, brauche mich nicht einsam und verlassen in diesen auch verzweifelten Momenten zu fühlen.

Einmal, als meine Großmutter mir den Vorwurf macht, sie nicht zu mögen, undankbar zu sein, mich nicht richtig zu kümmern, antwortete ich: „Mima, wenn ich Dich nicht lieben würde, dann wäre ich nun auf einer großen, grünen Wiese mit einer Herde Schafe und meinen Hunden.“

Sie denkt einen Moment darüber nach und da treiben Rührung Tränen in ihre Augen. „Du liebst mich!“

Auch am Tag sorge ich nun besser für mich selbst. Kommt eine der vielen Freundinnen meiner Großmutter zu besuch, biete ich keinen Kaffee oder Tee an. Den hätten sie auch abgelehnt, kommen sie doch, um ihre Freundin zu sehen, miteinander zu erzählen. Nein, ich nutze diesen Moment, verlasse die Wohnung, laufe neun Stockwerke nach unten, einmal um die ganze Anlage und die neun Stockwerke wieder hinauf. Oh, das tut gut.

Vielen Dank an all die liebreizenden Damen. Sie sind so ein Geschenk.

Meine Großmutter hatte immer als erste und einzige Priorität die Familie. Mann und Kinder mussten umsorgt werden, ihnen gehörte ihr Leben. Erst die letzten Jahre, nachdem ihr Lebenspartner für vierzig Jahre verstorben war, entdeckte sie die Freuden die es bringt Freundinnen zu haben. Wie tief diese Bande geknüpft sind, kann ich nun in ihren Besucherinnen sehen. Täglich kommen sie, klatschen und lachen fröhlich, um dann wieder tief ernst und vertraulich zu sprechen. Zur Verabschiedung bekomme auch ich immer ein paar aufmunternde Worte, dazu Bewunderung und Dank für das, was ich hier tue. Ob Sie wissen, wie viel Kraft sie mir geben?

Ja, die Zeit hält viel Anstrengung bereit und doch so viel mehr Bereicherung.

Es ist so wertvoll!

Ich lerne, wie ähnlich das Ende dem Anfang ist. Alles was Mensch möchte ist eine geliebte Person um sich zu haben, Sicherheit, gehalten werden. Ich versorge, ja, aber noch mehr bin ich da, lese vor oder erzähle Erinnerungen aus meiner Kindheit mit meiner Großmama. Und die Märchen, die wir nachgespielt haben. Lügenbrückchen oder Brüderlein und Schwesterlein.

„Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermeh!“


 

Ich habe diese Geschichten als Kind gehört und sie später meinen eigenen Kindern erzählt. Nun erzähle ich sie wieder meiner Großmama, ein Kreis der sich schließt. Sie lauscht beglückt, ihre Augen leuchten vor Freude.

Und wir kuscheln, ich halte sie in meinen Armen und sie schmiegt sich immer nur fester, bis ihr Atem gleichmäßig wird, sie wieder einschlummerte.

Die Tage vergehen rasend. Die Schwäche schleicht zurück. Die Hoffnung, dass es wieder auf die Beine geht, verschwindet. Auch der Glaube, dass uns noch viel Zeit bleibt. Es gibt bessere und schlechtere Tage oder auch nur Momente. Doch es wird immer weniger. Manches fällt mir kaum auf, wie dass ich nun für Besuch übersetzen muss was gesprochen wird. Manches ist nur all zu deutlich. Immer weniger wird gegessen, selbst der Favorit, knuspriges Brötchen mit Butter und einem weichen Ei, wird bald nur ein Achtel pro Mahlzeit. Dafür liebt sie weiter die kräftige Rindermarkknochensuppe mit Gemüse, die meine Mutter immer neu kocht, wenn auch nur noch das Flüssige davon.

Und meine Großmutter wartete, auf den Sohn, der von weit gekommen war, nun erst am Wochenende wiederkommt

 -Wann kommt er denn nun? In zwei Tagen? Aber das hast Du doch schon gestern gesagt.

-Nein, Du hast nur nochmal geschlafen. Aber zwei Tage, dann ist er da.

-Das ist gut. Was ist mit meinen Schwestern?

-Die waren letzte Woche hier. Guck, da habe ich Bilder, wie ihr zusammen seid.

-Oh, wie schön.

Eine Nacht kommt, in der sie gar nicht zur Ruhe kommt, die Medikamente nicht anschlagen.

In letzter Verzweiflung der Anruf bei dem Hospiznothotline, es ist drei Uhr in der Früh.

Und die zuständige Mitarbeiterin springt aus dem Bett, kommt. Schwiegertochter und ich sind so erleichtert, wir haben alles richtig gemacht, es braucht nicht mehr Medikamente. Die gute Frau sitzt mit uns am Krankenbett, hört uns zu, stellt Fragen, spricht über Sterben und Loslassen. Wir und meine Großmutter entspannen.

Es ist Sonntag als meine Großmama lebendiger erwacht als all die Tage zuvor. Ihre Aussprache ist klar und für alle verständlich. Ja, all ihre Kinder und ich, die für sie ja auch immer ein Kind war, sind da. Abwechselnd wachen wir an ihrem Bett.

Sie möchte eine Reise mit uns machen, wo sind die Autoschlüssel?

Anna, zeig mir den Weg!

Anna, Du musst mir den Weg zeigen!

Und wieder versichere ich ihr, dass sie nicht kämpfen braucht, dass sie nichts tun muss, gar nichts. Es wird von ganz alleine passieren, keine Anstrengung.

Abends dann sage ich: „Wenn sie ein Schaf wäre, wüsste ich, dass sie jetzt stirbt.“

Doch glauben, oder wahrnehmen tue ich es selbst jetzt nicht.

Es ist neun Uhr, die Kirchturmuhr schlägt und unsere Mutter, Schwiegermutter, Großmutter stirbt.

Ist gestorben.

Wir öffnen ihr das Fenster.

 


 

Spät in der Nacht liege ich in meinem oder besser ihrem Bett.

Sie liegt noch nebenan.

Oder eben nicht mehr.

Meine Gefühle sind leer, und doch ist da kein Schlaf.

Ich schreibe meinem Freund, Schriftsteller in Guatemala.

-Manuel?

-Yes? (Ja?)

-My grandma died at 9p.m. (Meine Großmutter starb heute abend um neun Uhr.)

-What? (Was?)

I’m sorry, Anna. (Es tut mir leid, Anna.)

Send love and strength to you and your family. (Sende Liebe und Kraft zu Dir und Deiner Familie.)

-Thank you. (Danke Dir.)

-Do you want to talk? (Möchtest Du reden?)

-Don’t know, don’t want to be alone. (Weiß nicht, ich möchte nicht alleine sein.)

Would you read something to me? (Würdest Du mir etwas vorlesen?)

-Of course. What do you want? (Selbstverständlich. Was möchstest Du hören?)

-What ever you think of. (Was immer Du denkst.)

-Let me think what I can find. (Lass mich schauen was ich finde.)

-Thanks. (Danke.)

-NP I’ll going to write something now. (Kein Problem. Ich werde jetzt etwas schreiben.)

Und ich beobachte, wie der kleine Kasten auf dem Bildschirm sagt: Manuel schreibt …

Eine viertel Stunde später kommt ein Text mit den abschließenden Worten:

-It’s what I have for now. Tell me if you like it. If so then I read for you; if not, I think in other things. (Das ist, was ich soweit habe. Sag mir, ob Du es magst. Wenn ja, werde ich es für Dich lessen; wenn nicht, fällt mir etwas anderes ein.)

Es sind Worte für mich und meine Großmama, für diesen Moment, für meine Gefühle.

Manuel, ein junger Mann im fernen Guatemala, sieht durch mich hindurch, hat mein Fühlen in perfekte Worte gefasst.

In zwei Wochen werde ich dieses Gedicht von der Kanzel vor der Trauergesellschaft verlesen. Zur Beerdigung meiner Großmutter, die die Lücke gefunden hat in dieser Pandemie. Die einzige Zeit, in der wir wirklich alle da sein dürfen, um uns zu verabschieden, um uns gegenseitig Trost zu spenden.

 

Tonight I’ll see the stars              (Heute Nacht sehe ich die Sterne) 

I’ll be looking for you                  (Ich halte Ausschau nach Dir) 

And when I find yours                (Und wenn ich Deinen find) 

I’ll send a huge hug to the sky.(Werde ich eine kräftige Umarmung zum Himmel schicken.)

 

I feel alone, it’s true               (Ich fühle mich alleine, das ist wahr) 

But I know it’s not forever.    (Aber ich weiß, es ist nicht für immer.) 

The moment has come and it hurts like hell (Der Moment ist gekommen und tut höllisch weh) 

And that’s ok,                         (Und es ist in Ordnung) 

We can always remember      (Wir können un simmer erinnern) 

That love is stronger than loneliness. (Das Liebe starker ist als Einsamkeit.) 

 

Let me feel better at my own step, don’t push me (Lass mich in meiner eigenen Geschwindigkeit besser fühlen, dränge mich nicht.) 

Let me know you’re still here,(Lass mich wissen, dass Du immer noch hier bist,)

anytime I want to cry, accompany me, please. (Immer, wenn ich weinen muss, begleite mich, bitte.)

The sky has an angel                          (Der Himmel hat einen Engel) 

I have her memory                             (Ich habe ihre Erinnerung) 

The loneliness won’t last forever     (Die Einsamkeit wird nicht für immer bleiben) 

My friends are here, they always are (Meine Freunde sind da, sie sind es immer) 

Maybe they are a bit dorks           (Vielleicht sind sie ein klein bisschen Schlingel) 

But those dorks are mine                   (Aber es sind meine Schlingel) 

 

Tonight I might cry, but in the end  (Heute Nacht mag ich weinen, aber am Ende) 

I’ll be happy for what I did.               (Bin ich froh über meine Taten) 

She knows how much I love her         (Sie weiß, wie sehr ich sie liebe) 

and all I did for her was just my duty,(Und alles, was ich für sie getan habe war nur meine Pflicht) 

 a one I did with love.                         (Eine, die ich mit Liebe erfüllte.)

 


Und die Welt dreht sich weiter, ein nächstes Frühjahr beginnt. Und wieder hüte ich Schafe auf Sylt. Mein Fuß schmerzt von dem entzündeten Fersensporn und ich hoffe sehr, durchalten zu können, auf Besserung.

Schafe hüten, das ist so sehr meins! Das bin so sehr ich!

Und dann hier, auf dieser Insel, meine Großmama wirkt gegenwärtig, nicht nur in meinen Erinnerungen.

Sylt, wird auf immer auch meine Oma Mima sein.